Nun wird sie also ausgegeben, die elektronische Gesundheitskarte (eGK). Was hat man nicht alles versprochen: Elektronisches Rezept. Bessere Hilfe im Notfall. Schnellere Arztbriefe. Elektronische Patientenakte. Vermeidung von Doppeluntersuchungen. Kostensenkung. Verhinderung von Sozial-Missbrauch. Und höchste Datensicherheit.
Was bietet die neue Karte: Die Versichertenstammdaten – wie bisher. Auf der Rückseite die europäische Versichertenkarte – wie bisher. Nur der integrierte Chip ist sehr viel leistungsfähiger.
Doch die Pläne sind unverändert. Ziel dieses gigantischen Projekts eGK ist nach Auskunft der Bundesregierung die elektronische Patientenakte, also eine Datei mit den medizinischen Daten aller 80 Millionen Bundesbürger. Gemeint sind hier nicht die digitalisierten Fallakten, wie sie bereits heute in den Praxen und Kliniken – von außen unzugänglich – existieren, gemeint ist eine vernetzte Akte über jeden Bürger mit deutschlandweiter Zugriffsmöglichkeit. Eine solche Datei würde alles enthalten, was der Arzt erfährt: Krankheiten, Kontakte, Beschwerden und Beeinträchtigungen, intime Angelegenheiten, Befunde, Konflikte, Behandlungen, Medikamente, Diagnosen, Krankenhausaufenthalte, Begutachtungen, Arbeitsunfähigkeiten, berufliche Tätigkeiten, andere Lebensumstände, Adressen, Telefonnummern und andere Kontaktdaten. Die Karte ist nur der Zugang, ein Schlüssel zur elektronischen Akte.
Was hat es da mit dem Datenschutz auf sich? „Die Karte ist sicher. Ein Zugriff ist nur möglich, wenn gleichzeitig die eGK und der eArztausweis, (der noch kommen soll) gesteckt sind und der Versicherte seine PIN eingibt. Der Versicherte kann sein informationelles Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen, indem er dann bestimmt, wem er welche Daten zugänglich macht.“ sagen, verkürzt dargestellt, die Entwickler und Verfechter des Systems.
Für ein Bankschließfach mag das ausreichen. Für die Medizin aber ist ein solches System völlig ungeeignet:
Ein Zugang zu den Daten nur, wenn eGK und Arztausweis stecken? Wie praxisfremd! Man bedenke nur, dass in einer Arztpraxis meist mehrere Menschen gleichzeitig, im Krankenhaus mehrere hunderte Menschen gleichzeitig behandelt werden. Man bedenke, dass die Arbeit für den Kranken auch noch lange n a c h seiner Anwesenheit erfolgt: Befunde von bildgebenden Verfahren und aus dem Labor kommen oft erst später, Arztbriefe werden erst danach geschrieben. Später werden Kontrolluntersuchungen, Wiederaufnahmen, Kuren und Rehabilitationsmaßnahmen vorbereitet. Begutachtungen werden benötigt. Dann sind noch Rentenansprüche und Rechtsfragen zu klären. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Ein Zugang zu allen Behandlungsdaten nur, wenn eGK und Arztausweis stecken, nicht aber im Nachhinein? Man denke auch an unverzichtbare Impf- und Arzneimittel-Überprüfungen, man denke an epidemiologische Studien, an wissenschaftliche Arbeit in der Medizin überhaupt. Ein solches System würde ein Ende jeglicher Forschung und jeglichen Fortschritts in der Medizin bedeuten!
Ganze Personengruppen, bspw. Schwerkranke, Alte, Sehschwache und Blinde oder andere Behinderte können die vielen Informationen, die ihnen der Bildschirm bietet, nicht wahrnehmen oder nicht verarbeiten. Feldversuche haben gezeigt, was zu erwarten war: Schon mit der PIN waren sie überfordert. Nach einem Blick auf den Bildschirm qualifiziert entscheiden, welche Informationen wem und wie lange zugänglich gemacht werden dürfen? Auch damit wären Schwerkranke überfordert, Behinderte benachteiligt.
Ein Zugang zu den Daten durch den Arzt, nur, wenn eGK und Arztausweis stecken? Wir wissen doch, dass nicht nur der Arzt, dass auch seine Mit¬arbeiter mit medizinischen Daten befasst sind, befasst sein müssen:
Man denke da nur an die Arzt- und Zahnarzthelferinnen, Krankenschwestern, Röntgen- und Labor-Assistentinnen, Sekretärinnen, an die Verwaltungs- und EDV-Fachkräfte, auch an die in der Medizin tätigen Psychotherapeuten und Naturwissenschaftler; die Liste ließe sich noch sehr verlängern. Es arbeiten im Gesundheitswesen ca. 4 Mio. Menschen. Alle Nicht-Ärzte von der Arbeit mit den Daten auszuschließen ist offensichtlich völlig unmöglich. Es müssten also mit Einführung einer elektronischen Fallakte etwa 2 Mio. Menschen mit einem Heilberufler-Ausweis ausgestattet werden und Zugriffsrechte erhalten. 2 Mio. Menschen mit Zugriffsmöglichkeiten zu den intimsten Daten eines jeden Bürgers? Ein solches System ist mir ein Alptraum.
Es ist also dieses „Zwei-Schlüssel-“ oder „Vier¬Augen-System“ ganz offensichtlich für die Medizin völlig ungeeignet. Wegen vieler ungelöster Probleme hat sich das Projekt um Jahre verzögert. Nun soll die eGK, auch wenn sie nichts kann, der Stein sein, der die Lawine ins Rollen bringen soll.
Mit der Einführung einer vernetzten Patientenakte würden zweifellos auch Begehrlichkeiten von Krankenkassen, Versicherungen, des Staates und seiner Behörden, von Arbeitgebern, von Medien und auch von Privatpersonen geweckt. Und es besteht die Gefahr, dass nach Aufbau einer solchen Datenbank der Gesetzgeber seinen Behörden mittels Rechtssprechung Zugang verschaffen könnte.
Mit der vernetzten Patientenakte entstehen auch bisher unbeachtete Gefahren: Die Daten sollen zwar verschlüsselt übertragen werden, ein Zugriff von außen soll verhindert werden. Die Gefahr unberechtigten Zugriffs durch Berechtigte, durch sog. „Innentäter“ ist von den Entwicklern des Projekts nicht berücksichtigt oder, weil nicht lösbar, einfach ignoriert worden.
Es geht hier nicht um die 98 Prozent Mitbürger, deren Krankheiten und Daten für Außenstehende völlig uninteressant wären. Es geht vielmehr um die 2 Prozent, die für die Öffentlichkeit und für Kriminelle von Interesse wären, bspw. Politiker, Richter, Staatsanwälte, Justizvollzugs- und Finanzbeamte, Mitarbeiter der Nachrichtendienste, Führungskräfte der Wirtschaft, auch um Künstler und Journalisten.
Drastisch ausgedrückt:
Für Lieschen Müller und ihr Überbein
interessiert sich doch kein Schwein.
Für die Libido der Frau Doktor Merkel
aber interessiert sich jedes Ferkel.
Da wäre die vernetzte Patientenakte der GAU, der größte anzunehmende Unfall für den Datenschutz in Deutschland.
Die Politiker, die dieses Projekt noch unterstützen, ahnen nicht, in welche Gefahren sie sich, ihre Familien, ihre Mitarbeiter und viele Bürger unseres Landes bringen.
Aus den genannten (und weiteren, hier nicht genannten) Gründen wird das Projekt „elektronische Gesundheitskarte“ von uns Ärzten mehrheitlich abgelehnt; auch mehrere Ärztetage haben das Projekt in der jetzigen Form wiederholt abgelehnt.
Es soll die eGK der Stein sein, der die Lawine ins Rollen bringen soll. Noch kann sie nichts. Aber sie ist hochinfektiös, sie enthält ein für den Laien noch nicht erkennbares Virus. Unsere Erfahrungen aus der Medizin zeigen: Prophylaxe, Impfschutz und Früherkennung sind die wirksamsten Maßnahmen gegen Krankheiten. Je früher man ansetzt, desto gesünder bleibt der Mensch.
Darum lässt man besser die Finger von diesem Projekt!
Berlin, im Dezember 2011
Dr. Klaus Günterberg
Frauenarzt, Berlin
(Mit freundlicher Genehmigung des Autors - Download als pdf)