Komitee für Grundrechte und Demokratie: Bremen, 29.06.2012
Wolfgang Linder
Wir fordern die gesetzlich Krankenversicherten auf, sich dem Ansinnen ihrer Krankenkasse zu widersetzen, ihr Foto für die elektronische Gesundheitskarte einzusenden.
Wir fordern Bundesregierung, Minister Bahr und Bundestag dazu auf, das Projekt „elektronische Patientenakte“ und den weiteren Roll Out der elektronischen Gesundheitskarte zu stoppen.
Die neue Gesundheitskarte leistet bisher nicht mehr als die alte Krankenversichertenkarte. Unter Berufung genau hierauf hat auch ein Sozialgericht in erster Instanz jüngst eine Klage gegen die neue Karte abgewiesen. Allerdings ist sie viel teurer, da mit Prozessorchip und Foto des Inhabers versehen. Die Kassen suggerieren ihren Versicherten, Sinn der neuen Karte sei es, durch das Foto des Inhabers deren Missbrauch zu verhindern. Dies ist vorgeschoben. Kern des Projekts ist es, den Zugang zur elektronischen Patientenakte zu eröffnen. Künftig sollen auf zentralen Servern möglichst sämtliche medizinische Behandlungen möglichst vieler Versicherter lebenslang gespeichert werden. Soweit ist es noch nicht, die dafür erforderliche technische Infrastruktur wird noch vorangetrieben. Aber: nur dadurch können die immensen Kosten des Projekts gerechtfertigt werden. Es heißt, man könne nur so Doppel- oder sich widersprechende Behandlungen vermeiden. Eine längst überfällige Verbesserung der Kommunikation von Ärzten und Krankenhäusern untereinander ohne zentralen Datenpool wird hierdurch jedoch weder geleistet noch wird sie auf anderem Wege vorangetrieben.
Die Risiken und Konsequenzen aber werden immens sein:
1. Der zentrale Pool sensibler Gesundheitsdaten fordert illegale Zugriffe geradezu heraus.
Anmerkung zu 1.:
- Zwar sollen die Daten auf den Servern auf höchsten technischem Standard gesichert werden. Aber „Große Datensammlungen erzeugen immer große Begehrlichkeiten ... Es ist natürlich einfacher, einmal eine Verschlüsselung zu knacken, und dann Zugriff auf einen großen Pool zu haben, als jeden Datensatz einzeln zu entschlüsseln. Hacker haben schon in den Achzigerjahren angeblich sichere Systeme geknackt, das geht heute eher noch schneller. Wirklich sichere Verschlüsselungen gibt es nicht, deshalb wäre das Beste, auf so riesige Sammlungen zu verzichten“, so in 2009 der Datenschützer Thilo Weichert zum inzwischen aufgegebenen Projekt ELENA [1]. Gesundheitsdaten dürften mindestens ebenso sensibel und begehrt sein wie Einkommensdaten.
- Man muss sich zusätzlich vor Augen führen, dass alle Angehörige von Heilberufen, ihre Mitarbeiter und die bei ihnen in Ausbildung Befindlichen potentielle Nutzer der Gesundheitsdaten sind, schätzungsweise insgesamt 2 Mio. Personen, die versucht sein könnten, die Daten illegal zu nutzen.
2. Auf die Politik wird Druck ausgeübt werden, Zugriffe für verschiedenste Zwecke zu erlauben, etwa für Versicherungen, fremdfinanzierte Forschung oder äußere und innere Sicherheit.
- Ein Beispiel: Die EU fördert das Projekt „Electronic Health Records for Clinical Research (EHR4CR)“ mit dem Ziel des Aufbaus einer europäischen Technologieplattform zwecks Identifizierung geeigneter „Studienpatienten“ und zur nahtlosen(!) Integration der elektronischen Patientenakten in bestehende Forschungsplattformen und Netzwerke des Gesundheitswesens [2].
- Und ein zweites Beispiel: Auf der eHealth Conference 2012 verkündete Staatssekretär Thomas Ilka vom BMG: „Wenn wir die Karte erst einmal haben, werden sukzessive weitere Anwendungen kommen“ [3].
Damit sprach er sicher im Sinne der Konferenzteilnehmer. Der Gesundheitsbürokratie, der Telematikindustrie, der Versicherungen und der Forschung. Nur: den betroffenen Versicherten werden derartige Ankündigungen – bewusst? – vorenthalten. Für künftige Nutzungen erforderliche Gesetzesänderungen dürften dann schnell bei der Hand sein. Schon wiederholt sind die gesetzlichen Bestimmungen zur Gesundheitskarte ohne viel Federlesen nach Opportunität angepasst worden. Es könnte sich etwa darum handeln:
- zusätzliche Nutzungen zu erlauben oder gar vorzuschreiben,
- zusätzliche Nutzer zum Zugriff auf die Daten zu berechtigen,
- die Verfügungsrechte der Patienten über ihre Daten zu beschneiden.
Eins dürfte eindeutig sein: Beim Projekt e-Card handelt es sich nicht um ein „Bottom-Up-Projekt“, das die realen Interessen der Versicherten und ihrer Ärzte aufnimmt. Denn dann hätte man die Behandlungsdaten dort gelassen, wo sie jetzt gespeichert sind: bei den Ärzten und anderen Behandlern. Und man hätte technische Lösungen für deren dezentrale Vernetzung und Kommunikation entwickelt. Vielmehr handelt es sich um ein „Top-Down-Projekt“, das dem Gesundheitswesen eine zentrale Telematikinfrastruktur überstülpt, die für beliebige, politisch und ökonomisch gesteuerte Zwecke multifunktional genutzt werden kann.
Dies hat das Komitee für Grundrechte und Demokratie dazu bewogen, sich an dieser Kampagne zu beteiligen: Es geht um das Recht der Versicherten, über ihren Umgang mit ihren Krankendaten zu bestimmen, und es geht um die berufliche Schweigepflicht ihrer Ärzte, die das Vertrauensverhältnis Patient-Arzt gewährleisten soll. Letztlich geht es auch darum, den Gesundheitsbereich davor zu bewahren, bürokratischer und ökonomischer Fremdbestimmung ausgeliefert zu werden.
Weshalb unsere Kampagne zum jetzigen Zeitpunkt?
Jetzt sind die Versicherten zum Handeln aufgefordert:
- durch die Kassen; ihre Fotos einzusenden
- durch uns, sich dem zu verweigern.
Die Kassen suggerieren ihren Versicherten gerne, sie seien gehalten, ihre Fotos einzusenden, wollten sie nicht Gefahr laufen, eine Privatrechnung ihres Arztes zu erhalten und ihren Versicherungsschutz zu verlieren. Aus der Sicht der Kassen verständlich: Hat der Gesetzgeber ihnen doch finanzielle Verluste angedroht, sollten sie nicht bis Ende des Jahres 2012 mindestens 70% ihrer Versicherten mit der elektronischen Gesundheitskarte ausgestattet haben.
Genau wie der Kläger im Prozess vor dem Sozialgericht Düsseldorf können aber auch die anderen Versicherten sich dem Wunsch ihrer Kassen verweigern, ihr Foto für die neue Karte einzusenden.
Wir korrigieren die unvollständigen oder fehlerhaften Informationen der Kassen:
- Aus dem Sozialgesetzbuch ergibt sich keine Pflicht, der Aufforderung nachzukommen. SGB V enthält keine derartige Regelung, und auch im allgemeinen Teil des SGB, etwa in § 60 Abs.1 SGB I, ist nicht als Mitwirkungspflicht normiert, dem Sozialleistungsträger ein Foto zur Verfügung zu stellen.
- Die Versicherten können vorerst ihre alte Krankenversichertenkarte weiter benutzen. Sie verlieren nicht ihren Versicherungsschutz, wenn sie die neue Karte nicht akzeptieren.
- Sobald die Gültigkeit der alten Karte abgelaufen ist, greift das sog. Ersatzverfahren. Der Versicherte kann sich vor dem ersten Arztbesuch im Quartal durch seine Kasse einen Behandlungsausweis ausstellen lassen. Weitere Arztbesuche kann er dann durch Überweisungen organisieren.
- Zudem sind einige Kassen dazu übergegangen, den Verweigerern unter ihren Versicherten die neue Karte einfach ohne Foto zuzustellen. Wir empfehlen, eine derartige Karte an die Kasse zurück zu schicken.
Kritische Versicherte können von ihrer Kasse einen mit Rechtsmittelbelehrung versehenen Bescheid anfordern, Widerspruch einlegen und – kostenfrei – Klage beim Sozialgericht erheben. Von der Website „www.stoppt-die-e-card.de“ können sie Mustertexte herunterladen.
Zum Schluss noch ein Zitat:
„Die neue „Gesundheitskarte“ ist in Wirklichkeit eine elektronische Krankenakte, die einzusehen keinem Hacker schwer fallen dürfte“, so Hans Magnus Enzensberger auf S. 142/143 des Magazins „ DER SPIEGEL“ 13/2012 unter dem Titel „Armer Orwell! ... Warum wir Bürger uns freiwillig überwachen lassen“.
Warum eigentlich? Verweigerung liegt so nahe. Wenn 5 % der gesetzlich Versicherten sich verweigern würden, wären das doch schon 4-5 Millionen!
[1] Interview auf S. 3 der taz vom 28.12.2009
[2] Deutsches Ärzteblatt 7/2012 S. A336 unter „Sekunärnutzung von Behandlungsdaten“
[3] Deutsches Ärzteblatt 24/2012 S. A1219 unter „E-Health: Weg von der Karte, hin zu den Anwendungen“
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