Die Corona-Pandemie hält Bundesgesundheitsminister Jens Spahn nicht davon ab, monatlich neue Gesetze durch den Bundestag zu peitschen, die seine angestrebte „Transformation“ des Gesundheitswesens befördern sollen. Gleichzeitig ist klar: Dass Deutschland bisher trotz aller Schwierigkeiten relativ gut durch die Zeit gekommen ist, liegt auch an dem starken dezentralen ambulanten Medizinsystem, das als erster Schutzring vor den Kliniken liegt und deren Überlastung bisher verhindert hat. Durch den enormen Einsatz von Praxisärzten und Personal sind viele Probleme, die andere Länder haben, bisher nicht aufgetreten. Die eHealth-Transformation ist nicht logisch begründbar – vielmehr bricht sich hier ein wirtschaftlich intendierter Lobbyismus Bahn, den Spahn mit allen Mitteln fördert.
Ebenso wird deutlich, dass die Pläne des seit 16 Jahren geplanten Projektes „Elektronische Gesundheitskarte“ in ihrem Kern bis heute nicht realisiert worden sind. Nach Verschwendung von Milliarden Euro gibt es in dem Telematik-Projekt der inzwischen verstaatlichten gematik immer noch nichts von den angeblichen Vorteilen. Ganz im Gegenteil: Die geplanten tiefen Eingriffe in die Praxisabläufe werfen ihre Schatten voraus.
Was ist für 2021 geplant?
Die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) sollte am 1.1.2021 starten, nach aktuellem Stand wird das aber vor dem 1.10.2021 nichts werden. Hatte man medial hier schon maximalen Druck vor allem auf die Hausärzte aufgebaut, so sehen wir, dass sich wie immer eine deutliche Verzögerung einstellt. Die Aussagen von Politik und Industrie bisher lauteten: Wer am 1.1.2021 nicht an den Konnektor angeschlossen ist, das e-Health-Update nicht erledigt hat und über keinen elektronischen Heilberufeausweis (eHBA) plus neuen Kartenlesegeräten in allen Sprechzimmern verfügt, kann eigentlich nicht mehr arbeiten. Wie von uns vorhergesagt, kommt es so nicht.
Die e-AU führt spart keine Arbeitszeit in der Praxis, sondern führt zu Doppelarbeit: erst die eAU mit dem eHBA signieren, dann an die Krankenkasse schicken und danach nochmal für den Patienten zwei Seiten ausdrucken, eine für den Arbeitgeber und eine für den Versicherten. Wenn die Technik nicht funktioniert, soll alles wie bisher auf Papier geschehen. Der Bürokratieschimmel wiehert.
Elektronische Patientenakte
Laut Gesetz muss jede gesetzliche Krankenkasse ab 1.1.2021 eine elektronische Patientenakte (ePA) zur Verfügung stellen. Ab 1.7.2021 ist jeder Praxisarzt verpflichtet, diese auf Wunsch des Patienten zu „befüllen“. Die ePA ist für die Patienten also (noch) freiwillig. Die geplante ePA wird eine unsortierte Sammlung von PDFs werden, die bei einem IT-Konzern in der Cloud verschlüsselt gespeichert werden. Allerdings müssen die PDFs von den „befüllenden“ Ärzten mit einem erklärenden Text versehen werden, der in Form von Metadaten von der IT-Firma zu lesen sein wird. IT-Spezialisten sagen, das hebele den Datenschutz völlig aus. Die Metadaten seien aussagekräftiger als die PDFs selbst. Einleuchtend, wenn man sich vorstellt, dass in dem erklärenden Text beispielsweise steht: „Karl Müller,Bericht Psychiatrie Klinik Schwandorf“.
Zudem hat der Bundesdatenschützer Ulrich Kelber eindeutig erklärt, dass die neue ePA nicht datenschutzkonform sei. Vor allem aus zwei Gründen: Die Patienten haben zunächst keine echte Möglichkeit, den Zugriff auf einzelne Dateien der Akte zu beschränken. Des Weiteren ist es nach Meinung von Datenschützern für Ärzte problematisch, „lesend“ auf die Akte zugreifen, da es keine datenschutzrechtlich wirksame Einwilligung der Patienten gebe. Außerdem kritisieren Datenschützer, dass die Authentisierungsregelungen über Apps und Passwörter nicht ausreichend sicherstellten, dass nur der berechtigte Patient auf seine Daten in der ePA zugreifen könne.
Wir sehen also: Es gibt maximale praktische Hürden für die Einführung der ePA. Aus Sicht der Ärzte ist die geplante ePA unsinnig. Sie hebelt die ärztliche Schweigepflicht aus, bleibt angesichts ihrer Verwaltung durch die Patienten mit entsprechenden Löschmöglichkeiten unvollständig und ruft entsprechende juristische Probleme hervor, wenn der Praxisarzt sich auf die unvollständige Akte verlässt. Der zeitliche und organisatorische Aufwand wird in keiner Weise refinanziert.
Die ePA startet in einem unreifen Zustand. Eigentlich vorgeschriebene große Feldtests haben bisher nicht stattgefunden. Das Bundesministerium für Gesundheit und die gematik verkünden jetzt am 10.12.2020, dass der Realbetrieb der ePA ab 1.1.2021 noch gar nicht starten kann. Es sollen jetzt erstmal in zwei Bundesländern Friendly-User-Tests in ausgewählten Praxen stattfinden. Man gibt zu, dass noch große technische und administrative Hürden vor der endgültigen Einführung liegen. Wir werden also gesetzlich zu einer Anwendung gezwungen, die weder ausgereift noch hinreichend getestet ist. Das schafft kein Vertrauen.
Weitere Informationen zur ePA sind im Interview mit Dr. Silke Lüder nachzulesen.
Notfalldatensatz und eMedikationsplan (eMP)
Nachdem die Softwarehersteller ein eHealth-Update des Konnektors erzwungen haben (für 530 Euro, die automatisch abgebucht wurden), darf man, wenn man außerdem noch die Module für Notfalldatenmanagement (NFDM) und eMedikationsplan (eMP) gekauft hat, einen Notfalldatensatz auf die eCard des Patienten auftragen und den eMP ebenfalls. Beides muss ständig aktualisiert werden. Diese Verpflichtungen richten sich wie immer in erster Linie an Allgemeinärzte und Internisten. Patient und Arzt geben im Sprechzimmer eine 6-stellige PIN in das Kartenlesegerät ein. Für die Ersteintragung gibt es im ersten Jahr bis Oktober 2021 17,58 Euro, danach die Hälfte. Auftragen und Pflege inklusive Aktualisierung des eMP erfolgen ohne neue Vergütung. Da kommt Freude auf bei den betroffenen Ärztinnen und Ärzten. Zudem hat die gematik schon ankündigt, dass die Hardware-Konnektoren ab 2022 ihre fünfjährigen Zulassungen verlieren. Künftig soll es dann nur noch eine Softwarelösung geben und die Gesundheitskarte nicht mehr zur Identifikation und als Träger für Notfalldaten und Medikationspläne dienen. Sollte man sich tatsächlich diese Mühe für eine Übergangsperiode machen?
KIM: Kommunikation im Medizinwesen
Erinnern wir uns noch einmal daran, was 2004 angeblich der Grund für das Projekt „Elektronische Gesundheitskarte“ war: Vermeiden von gefährlichen Wechselwirkungen bei Arzneimitteln und vor allem Verbesserung der ärztlichen Kommunikation zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Es hat 16 Jahre gedauert, bis von staatlicher Seite irgendetwas in dieser Richtung kommt, was man schon längst hätte einfacher, sicherer und billiger als normale verschlüsselte E-Mail-Kommunikation haben können.
Der Kommunikationsdienst KIM (Kommunikation im Medizinwesen) ist nichts anderes als ein E-Mail-Provider, der über die Telematikinfrastruktur läuft. Die großen IT-Firmen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) können das anbieten. Verschlüsselte Arztbriefe können versendet werden, man braucht einen eHealth-Konnektor und den Anschluss an einen KIM-Dienst, außerdem einen eHBA der neuesten Generation. Alles produziert Kosten, teilweise gibt es Refinanzierung durch die Kassen, teilweise nicht. Man muss sich für die Praxis eine E-Mail-Adresse reservieren, über die man anwählbar ist. Große IT-Firmen machen gerade ordentlich Druck für den Anschluss, die KBV hängt zeitlich hinterher. Es gibt keinen Grund, sich von den IT- Monopolisten drängen zu lassen.
eRezept, eAU – alles über KIM und die Telematikinfrastruktur
Über den KIM-Dienst soll auch das eRezept laufen – angekündigt für Mitte 2021, aber auch hier ist Abwarten angesagt. Der erste Feldversuch in Baden-Württemberg wurde gerade wegen Umsetzungsproblemen abgebrochen. Das Verschwinden des Erfolgsmodells Papierrezept, täglich millionenfach ausgestellt, wird also auch noch dauern. Auch hier muss man sich keinesfalls ins Bockshorn jagen lassen.
Das Problem des KIM-Dienstes: Alles läuft über die störungsanfällige Telematikinfrastruktur. Es gibt dort – wie man an dem wochenlangen Ausfall im Jahr 2020 sehen konnte – eher keinen sicheren Ausfallschutz nach internationalen Kriterien. Und davon ganz abgesehen: Jedes neue Gesetz aus dem Hause Spahn kann die versprochene Freiwilligkeit für Versicherte und den Datenschutz mit einem Federstrich aushebeln.
Sinnvolle moderne Technik auch übers Internet?
Wir leben und realisieren bereits moderne digitale Technik. Unsinnige, gefährliche und teure Anwendungen, die den Workflow in den Praxen behindern und uns von den Cloud-Anbietern abhängig machen, lehnen wir ab. Entsprechend gaben bei der letzten großen KBV-Umfrage 80 Prozent der befragten 2.000 Ärztinnen und Ärzte an, große Bedenken gegen die Telematikinfrastruktur zu haben, vor allem aufgrund ihrer Fehleranfälligkeit. Als besorgniserregend werden auch Sicherheitslücken empfunden, für 83 Prozent der Befragten ist der Umstellungsaufwand ein weiteres Hemmnis. Ein Drittel der Befragten ist monatlich von technischen Fehlern betroffen. Ein weiteres Drittel wöchentlich, jeder Zehnte sogar täglich (Quelle: Medical Tribune 27.11.20).
Wir sehen also: Das staatliche Mammutprojekt ist keine Hilfe, sondern eher ein Hindernis für unsere ärztliche Tätigkeit. Und es hebelt die Grundlage unserer Arbeit aus: unsere ärztliche Schweigepflicht.
15.12.2020 Dr. Silke Lüder