Analyse: eGK – Jens Spahn und das schwere Erbe des Hermann Gröhe

Mitten im Online-Rollout hat der neue Gesundheitsminister die Zukunft der elektronischen Gesundheitskarte infrage gestellt. Von der Kanzlerin bekommt er Rückendeckung. Was Ärzte frustriert, könnte Jens Spahn den Weg ins Kanzleramt ebnen.

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Kommentar zu Jens Spahn: Über die Leiche der eGK ins Kanzleramt

(Bild: BMG/gematik GmbH/heise online)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Er werde ein paar Monate genau analysieren, "wo wir stehen bei der elektronischen Gesundheitskarte und der Digitalisierung des Gesundheitssystems", sagte der neue Bundesgesundheitsminister. Danach wollte Jens Spahn (CDU) Vorschläge machen. Nun hat sich der Minister schon vor dieser Evaluierung für "Bürgerportale" stark gemacht. Die elektronische Gesundheitskarte mit Desktop und Lesegerät hält er für antiquiert. Dies sei nicht das, was Bürger sich 2018 wünschten.

Für seine Reformversuch-Vorankündigung bekam Spahn wenige Tage später Rückendeckung von der Bundeskanzlerin. Angela Merkel erklärte auf einer Konferenz der CDU-Kreisvorsitzenden am Mittwochabend, sie habe Spahn "freie Hand" bei der Suche nach Lösungen gegeben. Dazu gehöre auch, das "zehn-, elfjähriges Experiment mit der Gesundheitskarte" zu beenden.

Eine Analyse von Detlef Borchers

(Bild: 

Berliner Gazette

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Detlef Borchers ist freier Journalist in Berlin. Er arbeitet für heise online, c't und iX und schreibt unter anderem gelegentlich für Tageszeitungen. (Foto: Berliner Gazette)

Die Äußerungen der Kanzlerin und des Gesundheitsministers erstaunen. Denn sie fallen zu einer Zeit, in der die sogenannte telematische Infrastruktur des Gesundheitswesens installiert wird und sich die "Leistungserbringer" (Ärzte, Zahnärzte, Physiotherapeuten und Kliniken) mit "Konnektoren" (VPN-Routern) an diese Infrastruktur anschließen. Sie tun das in großer Eile und nicht immer freiwillig, weil die Vorgängerregierung von CDU/CSU und SPD auf Biegen und Brechen diesen "Online-Rollout" beschlossen hat. Er ist verbunden mit Sanktionen für alle Leistungserbringer, die da nicht mitspielen.

Obwohl noch immer nur ein Konnektor verfügbar ist, der zweite irgendwann im Juni kommen soll, gilt nach wie vor, dass ab dem dritten Quartal den Leistungserbringern die Installationspauschalen gekürzt werden, wenn sie nichts installiert haben. Die aktuelle Regierung von CDU/CSU und SPD will dieses "Erbe von Hermann Gröhe" (Spahn) nicht antasten. Jeder nicht angeschlossenen Praxis werden bis zu 1200 Euro weniger ausgezahlt.

Die Vollpauschale liegt bei 2557 Euro pro Praxis für einen Konnektor und ein Lesegerät. Sie wird aber nur dann gezahlt, wenn alles von eigens geschulten PEDs (= Professioneller Endnutzer Dienstleister) erfolgreich installiert ist und zum Ende des Quartals belegt werden kann, dass mindestens eine Gesundheitskarte erfolgreich online überprüft wurde. Nur wenige Ärzte und Zahnärzte haben den dafür notwendigen Abgleich der Versichertendaten bisher erfolgreich gemeistert.

Das Hantieren des Patienten mit dem Lesegerät in einer Praxis, die Eingabe der sechsstelligen PIN und das Warten auf die Freischaltung oder aber die künftig mögliche Speicherung von Notfalldaten und Medikationsplänen, all das hat Minister Spahn vermutlich vor seinem inneren Auge, wenn er behauptet, dass dieses Hantieren mit einer Karte dem Bürger anno 2018 nicht mehr zeitgemäß erscheine. Das muss flutschen, am besten mobil in einer App und mit einem schicken "Bürgerportal", in dem man auch sein Elster-Steuerformular abwerfen oder mit seiner elektronischen Identität Behördengänge absolvieren kann.

"Entscheidend ist, dass der Zugang zum System, im Gesundheitsbereich wie überall anders auch, nicht mit unnötigen Schranken versehen wird. Die Zeit von Kartenlesegeräten an Desktop-Computern als alleinige, vorgeschriebene Login-Variante ist in jedem Fall aus meiner Sicht nicht der Zugang, den sich die Bürger im Jahre 2018 mehrheitlich wünschen – und vor allem auch nicht nutzen werden", begründet Spahn die von ihm avisierte Neuausrichtung des Systems.

Mit dieser Argumentation im Namen des Bürgers übersieht der Gesundheitsminister, dass die telematische Infrastruktur nicht nur dem Patienten dient, sondern auch die sichere Kommunikation der Leistungserbringer umfasst. Schon die erste Konzeption der elektronischen Gesundheitskarte im Jahre 1997 durch das Gutachten von Roland Berger definierte die Karte als Informationssystem für die Ärzte, das sie im Sinne der Arzneimitteltherapiesischerheit nutzen sollten.

Mittlerweile ist das System gewachsen: mit dem Konnektor, den Institutionenkarten von Praxis oder Klinik und dem Heilberufsausweis des jeweiligen Arztes. So sollen Röntgenbilder oder CT- oder DVT-Scans mit mehreren Hundert Megabytes kryptografisch abgesichert verschickt werden können, die zudem nur mit Spezialsoftware angeschaut werden können. Diese informatorische Integration aller Leistungserbringer im Gesundheitswesen ist ein eigenständiges Ziel und hat nichts mit einem möglichst einfachen Login in einem "Bürgerportal" zu tun. Die Trennung der medizinischen Daten von anderen Behördendaten ist ein Sicherheitsmerkmal.

Spahn schwärmt von einer "zeitgemäßen" Lösung und macht damit der Industrie schöne Augen, die am IT-Projekt Gesundheitskarte glänzend verdient hat – und auch bei Spahns Projekten weiter verdienen wird. Bürgerportale und andere Vernetzungen in der Cloud, das sind erst einmal viele lukrative Aufträge für ein nagelneues System. Der Fokus auf den Bürger lenkt davon ab, dass an der Kommunikation der Leistungserbringer im Sinne der offenen IHE-Standards gearbeitet werden müsste, von denen man in Deutschland noch ein gutes Stück entfernt ist.

Wenn Kanzlein Merkel ihrem Minister nun "freie Hand" gibt, agiert sie auf einer anderen, einer politischen Ebene: An den Klippen des deutschen Gesundheitssystems mit vielen Krankenkassen, kassenärztlichen Vereinigungen, Arztverbänden und den Lobbyorganisationen der Industrie ist manch aufstrebender Politiker gestrandet. Man denke nur an Philipp Rösler oder Daniel Bahr, die nun auf Lobbyposten ihr "Gnadenbrot" verspeisen. Nun muss sich eben der unbequeme Jens Spahn beweisen.

Im Umkehrschluss bedeutet es freilich auch: Gelingt es Spahn, dem Gesundheitswesen eine neue Dynamik zu verpassen, in dem die Arzt-zu-Arzt-Kommunikation gesichert ist und Patienten die von ihnen gewünschten Datenbröckchen bekommen, ist er der nächste Bundeskanzler. (mho)