Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → REPORT

INTERVIEW/033: E-Cardmedizin - Umlast und Bezichtigung ...    Manfred Lotze im Gespräch (SB)


Vom solidarischen Umgang mit Kranken zur Krankheit als Schuld

Interview am 31. Oktober 2014 in Hamburg



Dr. Manfred Lotze von der Hamburger Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) ist deren Vertreter im Aktionsbündnis "Stoppt die e-Card". Vor der Veranstaltung "Gesundheit statt Überwachung", die am 31. Oktober in Hamburg stattfand, beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur Unterstützung in der Partei Die Linke, zu der neoliberalen Ökonomisierung des Gesundheitswesens und zum Verlust eines solidarischen Umgangs mit Krankheit.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Manfred Lotze
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Unter den Gegnern der elektronischen Gesundheitskarte finden sich verschiedene Berufsgruppen wie insbesondere Ärzte und Informatiker. Kritik wird mithin zunächst in einer berufsständischen und technologischen Herangehensweise geübt. Wo stößt diese Kritik aus deiner Sicht an Grenzen und müßte auch in eine gesellschaftspolitische Bewertung eingebunden werden?

Manfred Lotze: Das ist genau das zentrale Problem. Wie erreichen wir mit unserem Thema die Öffentlichkeit? Wir stoßen dort auf Grenzen, wo die Macht über die Leitmedien auf der gegnerischen Seite liegt, also bei den Befürwortern des Projekts e-Card. Es handelt sich ja um ein ganzes Projekt, in dessen Rahmen die e-Card nur der Schlüssel ist. Viele Menschen wissen nicht, worum es sich dabei handelt, und haben sich überrumpeln lassen, ohne informiert zu sein. Die Krankenkassen haben teilweise auch mit unzutreffenden Behauptungen Druck auf die Versicherten ausgeübt und behauptet, sie verlören ihren Versicherungsschutz, wenn sie ihr Foto nicht einschickten, was einfach nicht stimmt. Jetzt haben sie mit einer Verzögerung von acht Jahren die elektronischen Karten zu 80 bis 90 Prozent verteilt - mit mehr oder weniger korrekten Fotos.

SB: Obgleich die elektronische Gesundheitskarte ein zentrales und weitreichendes Projekt zur Umgestaltung des Gesundheitswesens ist, wurde ihre Bedeutung verglichen mit anderen Vorhaben wie etwa der Vorratsdatenspeicherung in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen. Wie hast du die Resonanz auf diese Problematik erlebt?

ML: Ich äußere jetzt meine persönliche Meinung und nicht so sehr die unseres Bündnisses. Ich habe den Eindruck, daß das Thema Gesundheit von vielen verdrängt und erst dann akut wird, wenn man krank geworden ist. Dann wiederum ist man von Schmerzen und Sorgen derart belastet, daß man sich um politische Aspekte und Hintergründe, warum man schlechte Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen macht, nicht mehr kümmern kann. Dann kümmert man sich nur noch um sich, die eigene Gesundheit und das Vertrauensverhältnis zu dem behandelnden Arzt. Das verhält sich erstaunlicherweise in der Linkspartei nicht anders, wo man schon sehr lange nach entsprechenden Positionierungen suchen muß. Die Linke hat zwar das e-Card-Projekt und die Telemedizin abgelehnt, was aber nicht annähernd dieselbe Rolle wie etwa Arbeitslosigkeit oder andere Bereiche des Sozialabbaus spielt, obwohl Gesundheit eigentlich ganz oben stehen sollte. Warum machen wir Politik? Weil wir alles, was Leben und Gesundheit bedroht, verhindern wollen. Tatsächlich wird das Thema jedoch verdrängt.

SB: Ist Die Linke die einzige Partei, die gegen die e-Card Stellung bezogen hat?

ML: Bevor die FDP Teil der Regierungskoalition mit der CDU/CSU wurde, hat sie gegen die e-Card Stellung genommen. Herr Bahr behauptete damals, mit ihm und seiner Partei gebe es die e-Card nicht. Die FDP hat ja durchaus eine Tradition grundgesetzsichernder Aspekte wie etwa hinsichtlich des Datenschutzes. Aber sobald sie an der Regierung war, spielte das keine Rolle mehr, und sie verfocht fortan die Interessen der an der Telemedizin beteiligten Industrie.

SB: Das Gesundheitswesen wird auf breiter Front ökonomisiert, was im Zusammenhang der Verwertung des Kapitals inzwischen eine bedeutende Rolle spielt. Wie würdest du das auch über die Gesundheitskarte hinaus einschätzen?

ML: Genau deswegen wehren wir uns gegen die Einführung der e-Card wie auch gegen die Telemedizin als solche. Diese Karte ist der Schlüssel für die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, die Kontrolle der Patientinnen und Patienten als Kunden, die Kontrolle der Ärzte als Dienstleister. Das sind die Transformierungen im Gesundheitswesen, die buchhalterisch nach den Regeln der neoliberalen Wirtschaftspolitik vollzogen werden, so daß Gesundheit als Dienstleistung daraus hervorgehen soll.

SB: Könnte man so etwas wie einen Verwertungszwang des Kapitals unterstellen, da sich ja die Frage stellt, warum inzwischen auch die Gesundheit des Menschen bis hinein in seine körperliche Substanz einem entsprechenden Zugriff unterworfen wird?

ML: Verwertungszwang des Kapitals ist so etwas wie ein weißer Schimmel - das ist im Grunde ein und dasselbe. Das Wirtschaftssystem des Kapitalismus bedeutet ja definitorisch, daß sich das Kapital vermehren und alles erfassen muß, was sich zu Geld machen läßt. Dazu gehören auch Bildung, Kultur und eben auch Gesundheit. Es hat im GATS, dem allgemeinen Abkommen über die Vermarktung der Dienstleistung, sogar eine Regelung gegeben, Gesundheit ausnehmen zu können. Davon hat die deutsche Politik jedoch keinen Gebrauch gemacht, der es um die radikale freie Marktwirtschaft ging - frei für die Interessen der Mächtigen.

SB: Bei der Einführung der e-Card ist es wiederholt zu internen Widersprüchen und Problemen gekommen, die die Umsetzung des Vorhabens bremsten oder zeitweise blockierten. Hing das damit zusammen, daß das Projekt zentral geplant wurde, man aber später feststellte, daß die verschiedenen darin vertretenen Interessen Gegenläufigkeiten hervorbrachten?

ML: Die auftretenden Probleme sind auf verschiedene Gründe zurückzuführen. Man könnte Siemens fragen, warum das Unternehmen ausgestiegen ist. Man könnte die Privatversicherungen fragen, warum sie nicht mitgemacht haben. Wenn wir gefragt werden, sagen wir natürlich, es lag an unserem Widerstand und der Aufdeckung der Illegalität. Man kann in diesem Zusammenhang europäische Gesetze zum Datenschutz und zur informationellen Selbstbestimmung ins Feld führen, aber auch das Grundgesetz heranziehen. Wir haben hartnäckig auf diese rechtlichen Vorgaben hingewiesen, und das hat meines Erachtens auch in der Betreibergesellschaft gematik immer wieder zu Problemen geführt, auch wenn sie das nicht zugegeben wollte. Die Betreiber mußten neue Wege suchen, die immer rücksichtsloser wurden, und drohen beispielsweise, Geldauszahlungen an niedergelassene Ärzte beschränken zu lassen oder andere Zwangsinstrumente in Stellung zu bringen. Das steigert sich, das wurde in den letzten Jahren schlimmer.

SB: Die Gesamtkosten des Projekts werden je nach Quelle auf fünf bis vierzehn Milliarden Euro oder mehr geschätzt, wobei niemand genaue Angaben machen kann. Handelt es sich um eines jener unsinnigen Großprojekte wie Stuttgart 21 oder der neue Flughafen in Berlin? Andererseits stellt sich natürlich die Frage, warum sie trotz ihrer vermeintlichen Sinnlosigkeit und Negativbilanz gegen den Widerstand aus der Bevölkerung weitergeführt und durchgesetzt werden sollen.

ML: Es steht fest, daß bislang schon mehr als eine Milliarde Euro für das e-Card-Projekt ausgegeben worden ist. Wie hoch die Gesamtkosten unter Einbezug aller Posten sein würden, kann ich nicht sagen. Die Industrie hat schon vor Jahren geschätzt, daß auf dem Gesundheitsmarkt jährlich 65 Milliarden Euro auf der Straße liegen, die in Gewinne umgesetzt werden können. Die Anfangskosten des Projekts stehen also in keinem Verhältnis zu der gewaltigen Summe, die sich die Betreiber letzten Endes als Ertrag erhoffen. Die Industrie verspricht sich hohe Gewinne und die Politik die Durchsetzung der neoliberalen Doktrin. Sie hat GATS unterschrieben und muß sich nun daran halten, und sollte auch noch TTIP kommen, haben wir überhaupt keine Chance mehr, weil dann Strafen für diejenigen drohen, die das Gesundheitswesen nicht vermarkten, sondern dem Gemeinwohl widmen wollen.

SB: Wir haben den ökonomischen Aspekt der Telemedizin angesprochen, zu dem sich jener der Überwachung der Bevölkerung gesellt. Welche Rolle spielt deines Erachtens die Kontrolle der Menschen in diesem Zusammenhang?

ML: Kontrolle ist ein Hauptinstrument des Neoliberalismus. Ohne Kontrolle kann man keine Gewinne machen. Man muß überall die Daten abgreifen, um sie zusammenzuführen und verwerten zu können. Die Kontrolle sieht für den Patienten praktisch so aus, daß die Versicherung überprüfen kann, ob er die von der Kasse gemachten Auflagen für die Bezahlung bestimmter Leistungen erfüllt hat - ob er also beispielsweise bestimmte Informationen gelesen und Vorsorgeuntersuchungen absolviert hat. Das soll im Zuge der Weiterentwicklung, deren Anfänge wir bereits erleben, dazu führen, daß die Patientinnen und Patienten bestimmte Ärzte in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), die wiederum den großen Gesundheitskonzernen gehören, aufsuchen und bestimmte Medikamente nehmen müssen. Auf diese Weise wird die freie Arztwahl ausgehebelt, da einem die Versicherung dann vorschreibt, wohin man sich mit einer bestimmten Krankheit wenden muß, weil der jeweilige Arzt die Qualitätskontrollen erfüllt hat, wie es heißt. So kommt es zur Monopolisierung im Gesundheitswesen und zum Abbau der freien Entscheidung.

SB: Am 19. Februar 2014 gab es eine Anfrage der Abgeordneten Katrin Vogler von der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, ob die Firma Booz Company, bei der es sich offenbar um eine Auslagerung von Booz Allen Hamilton handelt und die an der Sicherheitsarchitektur der e-Card beteiligt ist, ebenfalls mit der NSA zusammenarbeitet. Die Antwort aus dem Bundesministerium für Gesundheit fiel ausgesprochen vage aus. Glaubst du, daß deutsche Gesundheitsdaten auch von ausländischen Geheimdiensten abgegriffen werden?

ML: Aber selbstverständlich! Heute wäre jeder naiv, der glaubt, daß noch irgendwelche Daten im Netz geheim bleiben könnten. Das ist unmöglich, und das war wohl auch von Katrin Vogler eher eine rhetorische Frage, um an die Öffentlichkeit zu bringen, wie sich die Regierung windet, damit sie nichts offen zugeben muß.

SB: Habt ihr in der Kritik der Gesundheitskarte auch Verbindungen zu anderen Projekten wie etwa dem elektronischen Personalausweis hergestellt, die gleichermaßen fragwürdig sind?

ML: Das haben wir, wenn auch nur am Rande. Ich habe das in meinem Vortrag auf dem Zukunftskongreß "Zivilklausel" am letzten Wochenende hier in Hamburg so formuliert, daß die Speicherung von Krankendaten vor dem Hintergrund des zentral gesteuerten Netzwerks mit Jobcard und elektronischem Personalausweis besonders brisant wird.

SB: Ist es zu einem Austausch, zu Treffen oder einem Brückenschlag zwischen den Kritikern verschiedener Projekte gekommen?

ML: Wir haben in unserem bundesweiten Zusammenschluß "Stoppt die e-Card" unter anderem auch den Chaos Computer Club, die InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung und arbeiten mit den Organisatoren von "Freiheit statt Angst" zusammen, die immer wieder große Demos in Berlin veranstalten. Sie behandeln dieses Thema als Schwerpunkt und beziehen uns gewissermaßen als Teilaspekt einer Gesamtproblematik mit ein. Insofern sind wir mit diesen Ansätzen der Kritik verknüpft.

SB: Was wäre aus deiner Sicht eine zentrale Forderung in Hinblick auf die e-Card? Es sollen ja Daten in zentrale Server ausgelagert werden. Wie sollte man demgegenüber mit Gesundheitsdaten umgehen?

ML: Krankheitsdaten gehören nur in die Hände des Patienten und des behandelnden Arztes, sie unterliegen dem ärztlichen Schweigegelöbnis. Der notwendige Austausch von Daten mit den Kassenärztlichen Vereinigungen muß verschlüsselt erfolgen. Demgegenüber überführt die Transformation des Gesundheitswesens in die Gesundheitswirtschaft die Schweigepflicht in eine Meldepflicht.

SB: Was würdest du jemandem entgegenhalten, der sagt, die e-Card diene dem schnellen Zugriff auf Daten beispielsweise im Notfall?

ML: Das ist entweder naiv oder gelogen. Wenn ein Patient schwer krank oder bewußtlos in der Notfallaufnahme liegt, würde es viel zuviel Zeit kosten, ins Netz zu gehen, um die Daten herunterzuladen, wozu der Patient im Prinzip auch noch seine Einwilligung geben müßte. Auf dem Notfallausweis können zudem überholte Informationen stehen, auf die sich die Ärztin oder der Arzt nicht verlassen darf. Der Notfallarzt wird immer so handeln, wie er es aktuell für erforderlich hält, und nie nach Angaben auf einer Karte oder aus dem Netz. Davon abgesehen kennen wir ja die berechtigten Klagen von Patienten, daß sie der Arzt gar nicht ansieht, weil er ständig auf seinen Bildschirm schaut und nur mit dem digitalen Medium, aber nicht dem leibhaftigen Patienten kommuniziert.

SB: Man kann eine Tendenz zur Bezichtigungsmedizin beobachten, die den Menschen für seine Krankheit verantwortlich macht, weil er angeblich bestimmte Auflagen zur Lebensführung wie auf seine Ernährung zu achten, nicht zu rauchen, keinen Alkohol zu trinken und Sport zu treiben nicht erfüllt hat. Siehst du die Gefahr, daß sich der Umgang mit dem kranken Menschen vollständig in diesem Sinne umkehren könnte?

ML: Ja, diese Entwicklung zu mehr Kontrolle und Verpflichtungen des Patienten, bestimmte Standards und Auflagen der Versicherung zu erfüllen, sonst würden seine Kosten nicht erstattet, wird so drängend, daß er damit verbunden immer wieder erkennen muß, wenn ich dies und jenes nicht mache, dann bin ich selber schuld daran, wenn ich das Geld nicht bekomme oder meine Krankheit nicht angemessen behandelt wird. Wir haben im letzten Jahrhundert die Errungenschaft herbeigeführt, daß Krankheit solidarisch zu betrachten ist, weil jeder krank werden kann. Dieses Prinzip der Solidarität, Anteilnahme und Empathie in der Medizin ist die ethische Basis gewesen, und das wird jetzt wieder umgekehrt, indem man Krankheit zur privaten Schuld erklärt. Die Privatisierung nicht nur der Gesundheit läuft auf allen Ebenen. So erhält Krankheit wieder den Stempel der Schuld. Und gleichzeitig kommt der gesunde Körper, lange bevor er erkrankt, unter das Vorzeichen von Krankheit mit der Kontrolle und dem Zwang, Auflagen zur Vorsorge zu erfüllen, die persönlichen Gesundheitsrisiken zu minimieren, das alles zu dokumentieren, regelmäßig den Arzt aufzusuchen und die Angebote der Versicherung wahrzunehmen. Das ist ein humanitärer Rückschritt, eine Enthumanisierung unserer Gesellschaft.

SB: So werden die Menschen in dieser Gesellschaft also in eine Lage gebracht, die weit hinter das zurückfällt, was man früher erreicht hatte. Was wäre deine persönliche Hoffnung oder Perspektive, wie diese Entwicklung aufzuhalten und umzukehren sein könnte?

ML: Die Hoffnung stirbt zuletzt, und ich bin bei aller Skepsis Optimist und meine, daß wir das schaffen. Auch wenn in der Politik überall Irrationalität Siege feiert, denke ich doch, daß die deutsche Gesundheitspolitik nicht den Weg in die totale Vermarktung geht, weil wir längst auch negative Beispiele vor Augen haben. Wir hören immer mehr von den Verhältnissen in den USA, und im Kontrast dazu von dem humanitären Gesundheitswesen auf Kuba - Kontraste, die auch bei uns in der Bevölkerung immer mehr Allgemeingut werden. Und deswegen habe ich Hoffnung, daß es sich die Politiker nicht leisten können, das Gesundheitswesen zu verkaufen.

SB: Manfred, vielen Dank für dieses Gespräch.


Bisherige Beiträge zum Aktionstreffen "Medizin statt Überwachung" in Hamburg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:

BERICHT/018: E-Cardmedizin - Vorwand, Plan und Wirklichkeit ... (SB)
BERICHT/019: E-Cardmedizin - Brücke der Umlastdienste ... (SB)

19. November 2014