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INTERVIEW/035: E-Cardmedizin - Ökonomisierter Rückschritt ...    Axel Brunngraber im Gespräch (SB)


Versorgungsmedizin im Dienste der Obrigkeit

Interview am 31. Oktober 2014 in Hamburg



Dr. med. Axel Brunngraber ist als niedergelassener Internist in Hannover tätig. Er ist Vizepräsident der Freien Ärzteschaft e.V. (FÄ), eines Berufsverbandes niedergelassener Haus- und Fachärzte, der sich für eine patientenorientierte und sichere Medizin einsetzt. Axel Brunngraber ist Vorsitzender des Niedersächsischen Landesverbandes der FÄ und Mitglied im Ausschuß für Satzungs- und Geschäftsordnungsfragen der Ärztekammer Niedersachsens. Er war als Delegierter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wie auch Beisitzender Richter am Sozialgericht tätig und engagiert sich in der Ärztegenossenschaft Niedersachsen-Bremen.

Die Freie Ärzteschaft gehört zu den insgesamt 54 Bürgerrechts- und Datenschutzorganisationen, Patienten- und Ärzteverbänden, die sich zum Aktionsbündnis "Stoppt die e-Card" zusammengeschlossen haben, um mit vereinten Kräften Aufklärungsarbeit über das aus ihrer Sicht gleichermaßen patienten- wie demokratiegefährdende Projekt zu leisten und seiner Durchsetzung mit aktionistischen wie rechtlichen Mitteln in jedem Teilschritt entgegenzuwirken. Zu diesem Zweck fand am 31. Oktober im Hamburger Hotel Barceló ein unter das Motto "Medizin statt Überwachung" gestelltes Bündnistreffen statt, auf dem Dr. Axel Brunngraber einen Vortrag zum Thema "Das eGK-Projekt aus der Sicht der Ärzte" hielt. [1] Im Anschluß daran beantwortete er dem Schattenblick einige weitere Fragen zur Haltung der Ärzteschaft in Sachen e-Card, aber auch zu seinem persönlichen Berufsverständnis und einer an betriebswirtschaftlichen Kriterien orientierten Versorgungsmedizin.

Während des Interviews im Veranstaltungsraum - Foto: © 2014 by Schattenblick

Axel Brunngraber
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Bislang haben sich alle Deutschen Ärztetage klar gegen die Einführung der e-Card positioniert. Im Mai dieses Jahres jedoch sprachen sich die Delegierten dafür aus, die Arbeiten zur Einführung der Telematik-Infrastruktur fortzusetzen. [2] Bricht der ärztliche Widerstand ein?

Axel Brunngraber: Seit ein oder zwei Jahren ist es schwieriger geworden, diese Beschlußlage zu halten. Jedes Jahr scheiden etwa fünf Prozent der Delegierten aus Altersgründen aus, und so wird die Kontinuität der Diskussion dadurch aufgedröselt, daß Leute dazukommen, die diese Thematik noch gar nicht kennen. Um auch die Jahr für Jahr Dazukommenden in die Beschlußlage einzuweihen, müßten wir auf jedem Ärztetag wieder grundsätzlich darüber informieren, was das e-Card-Projekt überhaupt ist. Es ist leider einfach so, daß die 60 zu 40- oder 65 zu 35 Prozent-Mehrheiten schmelzen wie Schnee in der Sonne. Was da dieses Jahr beschlossen wurde, war ein für Insider interessantes, taktisches Hin und Her. Wir hatten einen großen Ablehnungsantrag vorbereitet.

SB: Mit "wir" meinen Sie ...

AB: ... die Ärzte, die das Aktionsbündnis "Stoppt die e-Card" organisieren oder mit uns kommunizieren und auch 'mal bereit sind, bei uns als Redner aufzutreten. Die sind nicht unbedingt alle Mitglieder bei "Stoppt die e-Card", aber sie bilden das e-Card-kritische Lager. Wir gehen dann so vor, daß wir auf dem Ärztetag Delegierte aus Hessen, Bayern und so weiter ansprechen. Es ist auch wichtig zu wissen, daß fast die Hälfte der Ärzte auf dem Ärztetag Krankenhausärzte sind, die sich eigentlich von dem Thema nicht so berührt fühlen. Die sagen sogar zu unseren Klagen, daß die Schweigepflicht zerstört wird: "Ach, das seid ihr Niedergelassenen. Bei uns ist das sowieso schon alles kaputt, jetzt stellt euch 'mal nicht so an. Was sie mit uns gemacht haben, können sie mit euch auch machen."

SB: Es gibt das Argument, daß die Kritik gegen das e-Card-Projekt der technischen Entwicklung fast schon hinterherläuft. Wie läßt sich da überhaupt noch ein Ansatz entwickeln?

AB: Deswegen haben wir versucht, in das Kliniker-Lager hinein zu sagen: "Das kann euch nicht völlig egal sein." Wir haben in den Praxen zum Teil ein lebenslanges Bündnis mit den Patienten. Die kommen als Jugendliche zu uns und wir begleiten sie 20, 30 Jahre lang, wir verwahren sozusagen auch ihre Biographien. Das alles kennt der Krankenhausarzt nicht, wenn jemand nur für fünf Tage zu ihm kommt. Die Liegedauer wird ja immer kürzer. Wir haben immer wieder versucht, den Klinikärzten zu sagen: "Stellen Sie sich das von unserem Standpunkt aus vor." Dadurch haben wir letzten Endes nicht einfach nur das Thema e-Card auf die Tagesordnung gebracht und gesagt, die finden wir alle furchtbar, sondern wir haben ihnen klargemacht, daß das für uns, die gewählten Ärzte der Patienten, ein wichtiges Thema ist, so wie den Krankenhausärzten das Tarifeinheitsgesetz unter den Nägeln brennt. Das hat ein bißchen was gefruchtet.

Doch dann war das in diesem Jahr auf dem Ärztetag eben so, daß der Beschlußantrag für die Einführung der telematischen Infrastruktur mit zwei Stimmen Mehrheit beschlossen worden ist. Das stand wirklich auf Messers Schneide. Die Bundesärztekammerspitze hatte einen fünfzigseitigen Sachstandsbericht vorgelegt. So ein dickes Heft hat jeder Delegierte bekommen, das war natürlich ein Informations-Overkill. Sie können einen normalen Delegierten kaum dazu bringen, sich das alles durchzulesen, und ihm klarmachen, daß das alles nur Blendung ist. Die meinen dann, das wäre eine maximale Transparenz. Die Gegenseite hat in wesentlichen Punkten einfach nicht mit Fakten argumentiert. Wir haben trotzdem unseren Antrag gestellt, all diese Dinge abzulehnen und haben uns gegen diese wirklich starke Offensive des Bundesärztekammervorstandes gestellt. Die haben große Stabsabteilungen, die so etwas fabrizieren, während wir alles ehrenamtliche Leute sind, die noch in der Praxis arbeiten müssen.

Wir haben trotzdem das ganze Zeug durchgearbeitet, haben es kritisiert und einen Gegenantrag auf die Beine gestellt. Daraufhin haben die e-Card-Freunde unseren Antrag genommen und haben an einigen Stellen einfach ein paar Formulierungen rausgenommen. Das waren natürlich genau die wichtigsten Stellen! Ich weiß nicht, ob so etwas in anderen Bereichen, wenn ein kritischer Antrag gestellt wird, möglich ist. Die haben eine Geschlechtsumwandlung mit unserem Antrag gemacht, haben mit den übrigen Argumenten gepunktet und den dann durchbekommen. Ich würde sagen, der ist eher mit semantischen Tricks zustandegekommen. Man muß aber auch sagen, daß es auf jedem Ärztetag auch zustimmende Vota gegeben hat und Anträge - auf einem Ärztetag gibt es rund 300 Abstimmungen - durchgekommen sind, die zum Inhalt hatten, daß die Telemedizin ausgebaut werden müßte. So war das auch im Mai 2008 auf dem Ärztetag in Ulm, wo wir unseren großen Ablehnungsantrag durchbekommen haben.

SB: Bleibt es bei solchen Beschlüssen nicht bei eher theoretischen Forderungen? Ein medizinischer Laie würde sich fragen, wie ein e-Card-kritischer Arzt seine Teilhabe an diesem Projekt verweigern kann. Welche Auswirkungen haben ablehnende Ärztetagsbeschlüsse?

AB: Im vergangenen Jahr hat unsere Arbeit dazu geführt, daß in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung unsere Überzeugung, daß das Versichertenstammdatenmanagement aus dem Gesetz raus muß, in die zwölf an die Parteien vor der Bundestagswahl gerichteten Forderungen der Kassenärzteschaft aufgenommen worden ist. Das bedeutete, daß die deutsche Kassenärzteschaft das als eine ihrer Forderungen gestellt hat, das ist dann schon nicht mehr ganz so virtuell. Eigentlich hätte der Vorstand das weiter verfolgen müssen, aber da wurde dann gesagt, das sei nicht drin.


Kritische Ärzte mit Wurzeln in der Studentenbewegung?

SB: Sie haben in Ihrem Vortrag die Zeit erwähnt, in der Sie studiert haben, und sich zum letzten Drittel der Alt-68er gezählt. Sind Sie mit einem Ansatz, der in der damaligen Studentenbewegung fußt, in Ihren Beruf gegangen? Hat sich Ihr ursprüngliches Berufsbild im Laufe auch der Entwicklung, über die hier heute gesprochen wurde, verändert?

AB: Ich bin jetzt 64 geworden. Da sagt vielleicht jeder gern von sich, daß er sich von seinen primären politischen und auch ärztlichen Zielen nie weit entfernt hat. Ich bin damals in einem Umfeld in Hannover groß geworden, wo es diesen Prof. Wulff gab, der in Vietnam auf der "Helgoland", einem Lazarettschiff, das die Bundesregierung dorthin geschickt hatte, Verletzte betreute. Wulff machte während des Vietnamkriegs das, was heute "Ärzte ohne Grenzen" oder ähnliche Organisationen machen, und natürlich stand das in einem politischen Widerspruch zur US-amerikanischen Vietnam-Politik.

Wulff war in Hannover sozialmedizinischer Lehrstuhlinhaber. Wir haben dort als Studenten eine Menge Bezugspersonen gehabt, die uns Medizin nicht als Zugang zu Privilegien, sondern als Verwirklichung gesellschaftsverbessernder Möglichkeiten vermittelt haben. Ich war dann auch Fachschaftssprecher. Es hat mich damals schon interessiert, mich irgendwie für "die Sache" einzusetzen. Dann kommt man aus dem Studium raus und ins Krankenhaus, in die Facharztausbildung und geht politisch erst einmal auf Tauchstation, weil man als Neuling im Beruf total mit seiner Inkompetenz beschäftigt ist.

Schon nach kurzer Zeit habe ich dann bemerkt, daß sich am Umgang mit den Patienten sehr viel ändert, was an den Vorgaben liegt, die einem Krankenhaus- oder auch Praxisarzt von außen gemacht werden. Der Spielraum, den ich im Umgang mit den Patienten habe, um eine individuelle Lösung zu finden, ist seit dieser Zeit durch Gesetzesreformen kontinuierlich eingeengt worden. Das hat mich dann so vor 8 bis 10 Jahren so wütend gemacht, daß ich mir gesagt habe, ich muß das jetzt politisch angehen. Natürlich hatte ich immer das Gefühl, vielleicht so etwas wie ein gescheckter Kater innerhalb einer affirmativ ausgerichteten medizinischen Kollegenschaft zu sein. In dem Moment, wo man sich zu Wort meldet, kommen plötzlich ganz viele Leute und sagen: "Ich sehe das auch so." Ich hatte die Ärzteschaft eher als uniform, politisch desinteressiert und willfährig eingeschätzt, doch in dem Moment, in dem es um Themen wie jetzt die e-Card geht, kommen ganz viele Kollegen wieder aus dem Busch und sagen: "Eigentlich finden wir das auch zum Kotzen, was mit unserem Beruf gemacht wird."

Axel Brunngraber mit Mikro vor Plakat 'Gläserner Patient' während seines Vortrags - Foto: © 2014 by Schattenblick

Warnung vor der Versorgungsmedizin im Vortrag bei "Stoppt die e-Card - Medizin statt Überwachung"
Foto: © 2014 by Schattenblick


Medizin statt Überwachung - wie radikal ist die Kritik?

SB: Die Konferenz hier in Hamburg steht unter dem Titel "Medizin statt Überwachung". Einmal ganz wörtlich genommen, könnte das ein recht radikaler Standpunkt sein, wenn der gesamte Medizinbetrieb als Überwachung aufgefaßt werden würde.

AB: Ich habe vorhin schon versucht rüberzubringen, daß der Patient nur noch Objekt eines Versorgungskonzepts ist. Wenn Sie heute gesundheitspolitische Äußerungen hören, geht es immer um das Wort "Versorgung". Dieses V-Wort ist der zentrale Begriff. Möchten Sie "versorgt" werden? Vielleicht wollen Sie sich um die Probleme selbst kümmern oder mit eigenen Schritten an ihrer Lösung partizipieren. Versorgung ist eigentlich etwas Obrigkeitsstaatliches und kann meiner Auffassung nach nur erfolgen, wenn zugleich eine ganz starke Kontrolle erlaubt ist. Ich kann einen komatösen Patienten nur versorgen, wenn ich dauernd nach ihm sehe und alles messe, was in ihm los ist, ein Eigenanteil wird da nicht mehr gelassen. Das finden Sie in all den Regierungskonzepten auch so vor.

Bei "hausarztzentrierter Versorgung" geht es nicht darum, dem einzelnen Hausarzt oder auch den Nachwuchskollegen motivierend beizustehen und eine Arbeitsmöglichkeit zu verschaffen. Sie sollen sich in dieses Versorgungssystem hineinbegeben. Meiner Auffassung nach werden die Einflußmöglichkeiten des einzelnen Patienten als Franchise-Nehmer in einer Filialkette - "MacDoktor"-Kette - noch mehr reduziert. Schon gegenüber einem normalen Arzt kommen sich Patienten vielleicht ohnmächtig vor, aber Sie sollten 'mal sehen, was Ohnmacht bedeutet, wenn Patienten wirklich als betriebswirtschaftlich überhaupt nicht zu kalkulierende Größe in dieser Kettenmedizin stecken.

SB: Eine Schwierigkeit bei den Protesten gegen die e-Card besteht in dem relativ geringen Bekanntheitsgrad des ganzen Projekts und seiner Problematik. Bislang scheinen es recht wenige Menschen zu sein, die sich dafür interessieren und kritisch hinterfragen, was da auf sie zukommt.

AB: Damals bei den Protesten gegen die Volkszählung gab es relativ schnell ganz viele Leute, die sagten: "Da müssen wir uns beteiligen, das wird noch für unsere Kinder wichtig sein, was hier heute an Daten erhoben werden soll." Demgegenüber ist das heutige e-Card-Projekt die vielleicht noch viel relevantere Geschichte, bei der sogar die genetischen Potentiale, die von den Eltern vererbten Risiken offenbart werden. Die Versicherungsorganisationen können dann bestimmte Dinge einfach ausschließen, indem sie sagen: "Hier sind in der Vorgeschichte, bei Vater, Mutter, Onkel oder Tante, zu viele Fälle einer bestimmten Krankheit".


Welche Folgen wird das e-Card-Projekt für Patienten haben?

Die Möglichkeit eines Menschen, im Einzelfall seine Lebensgeschichte darzustellen und mit einem weißen Blatt Papier neu zu beginnen, besteht nicht mehr. In den USA soll es jedes Jahr so zwischen 40 und 60 Leute geben, die einfach verschwinden und irgendwo mit einem anderen Namen wieder neu anfangen. Aus irgendwelchen Gründen - sei es, daß sie eine persönliche Katastrophensituation erlebt haben oder vielleicht vorbestraft sind - sagen sie: "Ich kann das nicht mehr in Ordnung bringen. Ich breche hier ab und fange woanders ganz neu an." Das wird mit diesen lebenslangen Sozialkennzeichnungen unterbunden. Und wenn sich dann in Ihren Datensatz Mißverständnisse einschleichen, haben Sie keine Möglichkeit, die Daten korrigieren zu lassen.

Wenn erst einmal die elektronische Gesundheitskarte mit der ganzen Vorgeschichte eingeführt ist, wird es ein persönliches Anamnese-Gespräch mit einem neuen Patienten schon aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht mehr geben können, denn die Erhebung dieser Anamnese ist ja im Grunde genommen schon eingespeist. Dann wird gesagt: "Herr Brunnengraber, Sie können sich ja gerne zehn Minuten lang mit Ihrem Patienten darüber unterhalten, was er im Leben schon für Krankheiten hatte, aber das steht doch hier schon alles drin. Kommen Sie 'mal zum Wesentlichen." Beim Qualitätsmanagement in der Gesundheitsversorgung ist es so, daß die Dinge verschachtelt werden und eine ganz bestimmte prozedurale Ablauffolge vorgegeben ist.

Es ist nicht mehr möglich, daß jemand etwas aus seiner Vorgeschichte tilgt und sagt: "Das möchte ich dem neuen Arzt nicht erzählen. Ich will ihn nicht belügen, aber ich möchte nicht, daß schon wieder diese Klappe fällt." Das finde ich beunruhigend, denn man ist ja im Grunde genommen in der Situation, in der man sich gerade befindet, lebenslang eingefroren. Und dann gibt es schon jetzt im Krankenhaus diese Fallpauschalbezahlung. Da wird nur gesagt: alter Mann, prostatakrank - Fallpauschale von 900 Euro. Wenn der nachts zweimal die Schwester fragt, wo das Klo eigentlich ist, bekommt er noch eine Diagnose - "beginnende Demenz" - dazu gesetzt, die dem Krankenhaus 200 Euro mehr einbringt. Für den Patienten bedeutet das aber, daß er in seinem Datenfeld plötzlich diese Information mit drin hat.

Es mag schon sein, daß manche Leute auch simulieren. Ich habe das als wehrpflichtiger Arzt bei der Bundeswehr erlebt. Da waren viele verzweifelte Männer, die wußten, wenn ich einen Selbstmordversuch mache, dann komme ich hier wieder raus und kann zu Claudia ins Ruhrgebiet zurück. Wenn das dann in der Gesundheitsakte drinsteht und die Personalchefs bei Siemens oder VW lassen sich Einblick in sie geben, dann sind die jungen Leute für ihr Leben mit einer Problematik gebrandmarkt, die nicht wirklich suizidal war. Das war einfach ein Verzweiflungsakt, irgend etwas zu faken, um bei der Bundeswehr rauszukommen.

Eine Schwierigkeit liegt meiner Meinung nach auch darin, daß in der Medizin überhaupt nicht festgelegt ist, wie Diagnosen validiert und auf ihren Bestand hin abgeklopft werden. Wie schnell wird da aus einer Verdachtsdiagnose eine feste Diagnose! Das wird alles überhaupt nicht geklärt. Die Ärzteschaft verläßt sich darauf, daß die omnipotenten Informatiker das alles schon irgendwie machen werden, und die Informatiker sagen: "Von Medizin haben wir keine Ahnung, das ist deren Aufgabe." Meiner Meinung nach sind die verteilten Rollen zwischen Ärzten und Informatikern fatal. Wir Ärzte müssen versuchen, die Kontrolle über die ärztlichen Fragen in die Hand zu bekommen und sie von keinem anderen lösen zu lassen. Aber für die Verantwortlichen ist es immer ganz prima, wenn das alles von Gremien und Fachleuten gemacht wird.

In meiner Schul- und Studentenzeit gab es Begriffe wie Autonomie und Widerstand, auch in der Hausbesetzerszene, auf die ich mich bezogen habe. Das hat uns damals im Jugendzentrum in Hannover sehr berührt. Es gab nur diese städtischen Zentren, doch dann wurde dort ein autonomes Jugendzentrum aufgebaut. Ich habe da in der Lehrlingsarbeit mitgemacht, wir haben Lehrlingen zur Fachhochschulreife verholfen. Das war so im kleinen Maßstab, aber ich fand das wirklich nicht schlecht. An diesem Punkt konnte man für sein Leben einen Sinn generieren, weil man sich einem gemeinsamen Problem gewidmet hat.

SB: Ist das vielleicht auch eine Generationenfrage? Sie hatten vorhin angesprochen, daß man es jetzt im Vergleich zu früher beinahe mit einem anderen Schlag von Menschen zu tun bekommt. Erleben Sie das so?

AB: Auf jeden Fall, aber es ist nicht so, daß ich jetzt eine Diagnose von der neuen Generation habe. Vom Empfinden her ist es so, daß ich bei ihr keine Resonanz spüre, was meine Besorgnisse und Motive angeht. Als Student habe ich gedacht, ich müßte vielleicht 'mal so ein kleines Kino mit Kneipe und Kleinkunstbühne machen und dann noch Räumen fürs Töpfern. Ich mache drei Kreuze, daß ich das nicht gemacht habe. Damals wäre das bestimmt sehr gut gewesen, weil ich mein Publikum genau kannte, ich war genauso. Aber dann werden Sie 'mal zwanzig Jahre älter und krabbeln als Vierzigjähriger zwischen Zwanzigjährigen herum, und die sagen: "Ist ja echt ätzend der Typ. Der bringt immer Sprüche, die wir vor zehn Jahren gesagt haben."

Für mich ist die Arztpraxis wirklich ein zweiter Ort, der mir einen Sinn fürs Leben gibt. Da habe ich ältere Patienten, die noch im Krieg aus Ostpreußen geflohen sind und so richtig Hartes erlebt haben - Flucht, Wiederaufbau und so weiter. Natürlich sind sie deshalb nicht klüger als die anderen, aber sie bringen eine andere Kompetenz mit, Schicksalsschläge und Leiden zu bewältigen. Und dann habe ich da junge Leute, die haben immer tierische Kopfschmerzen und wahnsinnige Bauchschmerzen, das ist alles immer gleich XXL, irgendwie maßstabslos. Ich bin froh, daß ich diesen Dauerzustand nicht habe, in den die ja auch irgendwie reingefesselt sind. Die müssen immer fit sein, dürfen keine Schwäche zeigen, und dann plötzlich klappt nichts mehr. Ich finde, daß wir in meiner Praxis - meine beiden Helferinnen sind seit 25 Jahren dabei - so ein bißchen eine kleine Insel aufgebaut haben. Und wenn ich dann mit anderen Kollegen in Berlin oder jetzt hier in Hamburg mit Gleichgesinnten zusammensitze, gibt mir das doch einen Lebenssinn, von dem ich hoffe, daß er sich wieder einspeist in das, was durch mein Handeln anderen zugute kommt, so wie sie mir ja auch etwas geben.

SB: Vielen Dank, Herr Brunngraber, für das Gespräch.


Fußnoten:


[1] Siehe den Bericht zum Vortrag von Axel Brunngraber im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:

BERICHT/020: E-Cardmedizin - Kontrolle, Ökonomie,
Gesundheitseffizienz? ... (SB)

[2] http://www.bmg.bund.de/ministerium/presse/interviews/gelber-dienst-110814.html


Bisherige Beiträge zum Aktionstreffen "Medizin statt Überwachung" in Hamburg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:

BERICHT/018: E-Cardmedizin - Vorwand, Plan und Wirklichkeit ... (SB)
BERICHT/019: E-Cardmedizin - Brücke der Umlastdienste ... (SB)
BERICHT/020: E-Cardmedizin - Kontrolle, Ökonomie, Gesundheitseffizienz? ... (SB)
BERICHT/021: E-Cardmedizin - In einer Hand ... (SB)
INTERVIEW/033: E-Cardmedizin - Umlast und Bezichtigung ...    Manfred Lotze im Gespräch (SB)
INTERVIEW/034: E-Cardmedizin - Transparenz und Selbstbestimmung ...    Rolf Lenkewitz im Gespräch (SB)

24. November 2014