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Kassen drohen damit, dass Kosten für Behandlungen ohne die neue Karte eventuell nicht mehr erstattet werden können.

© dapd

Elektronische Gesundheitskarte: Krankenkassen drohen ihren Versicherten

Krankenkassen drängen ihre Versicherten, zur elektronischen Gesundheitskarte zu wechseln – mit zum Teil überzogenen Argumenten. Was steckt dahinter?

Es ist ein Treppenwitz unter den Projektbeteiligten: „Die elektronische Gesundheitskarte (eGK) gilt seit dem 1. Januar 2006 als eingeführt.“ Denn sieben Jahre später krankt das Projekt immer noch. Auch die Verteilung der Karten geht nur schleppend voran. Die Bundesregierung hat deshalb im vergangenen Jahr beschlossen, den Krankenkassen Vorgaben zu machen. Die geben den Druck an ihre Versicherten weiter.

Was verlangt die Bundesregierung von den Kassen?

Im Versorgungsstrukturgesetz 2012 hat der Bund einen Absatz untergebracht, der die Kassen dazu auffordert, 70 Prozent der Versicherten bis Ende 2012 mit einer elektronischen Gesundheitskarte auszustatten. Die Meldefrist läuft allerdings noch bis Ende Januar. Falls eine Kasse dieses Ziel nicht erreicht, darf sie ihre Verwaltungsausgaben im Jahr 2013 nicht erhöhen. Für eine Krankenkasse ist das eine empfindliche Strafe. Wegen Inflation und Tarifbestimmungen steigen die Ausgaben jedes Jahr automatisch. Die Gelder dafür stammen aus dem Gesundheitsfonds, werden diese eingefroren, fehlt das Geld an einer anderen Stelle. Die Krankenkassen hatten also einen starken Anreiz, die von der Regierung geforderte 70-Prozent-Quote zu erreichen. Sie können ihre Kunden allerdings nicht zwingen.

Wie üben die Krankenkassen Druck auf ihre Versicherten aus?

Alle Versicherten haben im vergangenen Jahr Briefe erhalten, in denen sie mehr oder weniger deutlich dazu aufgefordert wurden, ein Passbild einzuschicken, damit die neue Gesundheitskarte ausgestellt werden kann. Mit den Formulierungen bewegten sich die Kassen häufig am Rand des Erlaubten. Versicherte mussten teilweise den Eindruck bekommen, sie seien verpflichtet, der Aufforderung der Kasse nachzukommen. „Sobald für alle Versicherten die bisherige Krankenversichertenkarte für ungültig erklärt wird, können Leistungen nur noch über die elektronische Gesundheitskarte abgerechnet werden“, steht in einem Schreiben der Techniker Krankenkasse (TK) vom Oktober 2012. Weiter heißt es: „Ohne die neue Karte kann es dazu kommen, dass Sie für in Anspruch genommene Leistungen eine Privatrechnung erhalten. Diese Kosten können wir leider nicht erstatten.“

Diese Aussagen der Kasse sind allerdings falsch oder zumindest grob irreführend. Ein fester Termin, zu dem alte Karten ihre Gültigkeit verlieren, sei derzeit nicht geplant und werde auch nicht kommen, bevor nicht annähernd 100 Prozent der Versicherten eine eGK besitzen, bestätigt der Sprecher der TK, Hermann Bärenfänger, auf Anfrage. Und selbst wenn der unwahrscheinliche Fall irgendwann einmal eintreten sollte: Auch dass Privatrechnungen nicht erstattet werden können, ist irreführend. Wenn nachgewiesen werden kann, dass man versichert ist, werden Arztrechnungen auch dann von der Krankenkasse erstattet. Ein Ersatzverfahren gibt es bereits seit Jahren.

Der TK-Sprecher bezeichnet die Angelegenheit als ein „Missverständnis“. Die Sachlage werde in dem Brief aus Komplexitätsgründen verkürzt dargestellt.

Christoph Kranich von der Verbraucherzentrale Hamburg arbeitet schon lange zum Thema Gesundheitskarte. Er kann zwar verstehen, dass die Krankenkassen versuchen, die eGK unter die Kunden zu bringen, derlei Briefe seien aber nicht in Ordnung: „Dass da Druck auf die Versicherten ausgeübt wird, ist überzogen“, sagt er.

Zuständig für die Kontrolle der Krankenkassen ist eigentlich das Bundesversicherungsamt in Bonn. Von derartigen Briefen der Kassen hat man dort allerdings noch nicht gehört. Nach der Anfrage des Tagesspiegels hat das Amt jetzt die Techniker Krankenkasse zu einer Stellungnahme aufgefordert. Danach entscheidet das Amt ob es disziplinarisch gegen die Kasse vorgeht.

Haben die Kassen ihr Ziel bei der Umstellung auf die neue Gesundheitskarte erreicht?

Anfang Januar 2013 meldete der Spitzenverband der Krankenkassen, dass die Kassen „insgesamt“ die geforderte Ausgabequote von 70 Prozent erreicht hätten. Auf Nachfrage heißt es jedoch, dass es sich dabei um einen Durchschnittswert handelt. Das bedeutet: Einzelne Kassen haben die Quote womöglich verfehlt, andere haben sie weit übertroffen. Bis zum 31. Januar müssen die Kassen dem Bundesversicherungsamt ihre endgültige Quote mitteilen. Dann kann das Amt gegebenenfalls die angedrohten Maßnahmen einleiten. Veröffentlichen will das Amt die Ergebnisse aber nicht. Dies falle unter das Geschäftsgeheimnis der Kassen. Die Techniker Krankenkasse liegt nach eigener Aussage derzeit bei etwa 90 Prozent – die Brief-Kampagne scheint geholfen zu haben. Trotzdem wiederholen Service-Mitarbeiter der Kasse am Telefon noch im Januar weiterhin die verkürzten und irreführenden Behauptungen aus dem Brief.

Was soll die neue Karte bringen?

Die eGK ist ein ambitioniertes Zukunftsprojekt: Eigentlich sollte die Gesundheitskarte das Bezahlsystem der Kassen revolutionieren, Versicherungsbetrug verhindern, Kosten sparen, Notfalldaten und Patientenakten speichern und den Austausch zwischen Ärzten erleichtern. Doch all das steht noch in den Sternen, die Realität sieht anders aus. Seit 2005 wurden Milliarden Euro in das Projekt investiert. Ein Sprecher der eigens für die Umsetzung der notwendigen Infrastruktur gegründeten Gesellschaft „gematik“ hat im Jahr 2009 die möglichen Gesamtkosten des Projekts auf 14 Milliarden Euro beziffert. Viel Geld für eine Karte, die bislang bis auf ein Foto des Versicherten die gleichen Funktionen hat wie die alte Versichertenkarte.

Was führen die Kritiker dagegen ins Feld?

Der Deutsche Ärztetag spricht sich seit Jahren gegen die Einführung der Karte aus. 2012 beschloss er: „Das Projekt ist gescheitert. Der derzeitige Nutzen liegt bei einigen Wenigen, bei Kontrollinteressen von Kassen und Politik und der nach neuen Märkten suchenden Industrie.“ Der Ärztetag fordert einen Stopp des Projekts und die Entwicklung kostengünstiger dezentraler Kommunikationswege und Speichermedien.

Die Kostenfrage ist für viele Kritiker des Projekts elektronische Gesundheitskarte allerdings bestenfalls ein Randaspekt. Die Gesellschaft für Informatik (GI) ist bereits seit 2005 ein vehementer Gegner der eGK. Und an ihrem zentralen Kritikpunkt hat sich seitdem nichts geändert: die Datensicherheit. „Gesundheitsdaten sind die sensibelsten Daten, die es gibt. Diese im Internet auf Servern zu speichern, ist zu gefährlich“, sagt Hartmut Pohl. Der Fachmann für IT-Sicherheit lehrt an der Hochschule Bonn- Rhein-Sieg Informatik.

Ein verbreiteter Irrtum ist, dass Patientendaten auf der Karte selbst gespeichert werden sollen. Der Chip auf der Karte hat nur ein Speichervolumen von 200 Kilobyte. Die Karte funktioniert ähnlich wie eine Bankkarte, zusammen mit den Lesegeräten in den Arztpraxen und der PIN-Nummer des Versicherten bekommen Ärzte Zugriff auf die Daten des Kunden. Die müssen anderswo gespeichert werden, aus Mangel an sinnvollen Alternativen soll das auf zentralen Servern im Netz geschehen. Zwar sollen diese Server jeweils nach dem neuesten Stand der Technik gesichert werden, aber ein Faktor lasse sich dennoch nie ganz ausschalten: „Jeder Mensch macht mal einen Fehler“, sagt Datenschutzexperte Pohl. Wenn der Server, auf dem die Daten gesichert sind, nur einige Sekunden ungeschützt sei, falle Google über die Daten her. Egal wie klein das Risiko ist, Gesundheitsdaten seien zu wichtig, um dieses Risiko einzugehen.

Auch die Gerichte hat die eGK bereits beschäftigt: Das Düsseldorfer Sozialgericht wies Mitte 2012 die Klage eines Wuppertalers ab, der wegen datenschutzrechtlicher Bedenken keine eGK haben wollte. Das Gericht verwies darauf, dass die eGK in ihrer derzeitigen Version die gleichen Daten speichert wie die alte Krankenkassenkarte, nur das Lichtbild sei neu. Alle zusätzlichen Anwendungen seien freiwillig. Der Hamburger Verbraucherschützer Christoph Kranich bezweifelt allerdings, dass das langfristig so bleiben wird. Zu viel Geld sei bisher in das Projekt investiert worden und nur die bisher freiwilligen Anwendungen versprächen Profite für die beteiligten Unternehmen.

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