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BERICHT/072: Elektronische Gesundheitskarte - Verwertungsoffensive gegen den Patienten (SB)


Treffen der Aktion "Stoppt die e-Card!" am 16. September in Hamburg

e-Card? Nein danke! - Grafik: © 2011 by Aktion Stoppt die e-Card!
Die Offensive kapitalistischer Verwertung transformiert den Menschen bis hinein in die verborgenste Regung und organische Substanz zur Ware. Mithin verwandeln sich seine persönlichen Daten in den Treibstoff einer Wertschöpfung, die alle Schranken bislang geschützter Refugien niederreißt, um sich eben jener Ressourcen zu bemächtigen, die Rechtsansprüche auf Menschenwürde und Privatsphäre zuvor von fremdem Zugriff freihielten. Diese ökonomischen Triebkräfte korrespondieren mit einer Bestandssicherung der bestehenden Verhältnisse, denen größtmögliche Verfügungsgewalt über den Menschen und seine sozialen Bezüge zur zweiten Natur geworden ist. Auf einen verwertbaren und kontrollierbaren Faktor im kommerzialisierten Gesundheitswesen reduziert, sieht sich der Patient der entufernden Enteignung seiner Persönlichkeit ausgesetzt, die ihn als ausgeplünderte Hülle nutzlos erachteter Fragmente zerstörter Subjektivität und Unversehrtheit zurückzulassen droht.

Im Jahr 2000 leitete die Europäische Union den Lissabon-Prozeß ein, zu dessen zentralen Elementen der "Übergang zu einer wissensbasierten Wirtschaft und Gesellschaft" gehört. Drängte die aufgeschobene Krise des Kapitals zur Erschließung neuer Ressourcen, so setzte sich die EU das ambitionierte Ziel, bis 2010 zur dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt aufzusteigen. Diese Innovationsoffensive konzentriert sich auf Schlüsseltechnologien insbesondere der Informations- und Kommunikationstechnik sowie des Gesundheitswesens. Das Ziel globaler Konkurrenzfähigkeit verschränkt sich dabei mit der Durchsetzung ökonomischer Rationalisierung wie auch dem Ausbau gesundheitspolitischer Zugriffsinstrumente. Im Kontext dieses Prozesses versprechen die neuen Informationstechnologien Zugewinn sowohl für medizinische Forschung als auch Administration im Sinne profitrelevanter und sozialutilitaristischer Ergebnisse.

Die irrtümlich mit Wissen, Emanzipation und Erweiterung eigener Handlungsmöglichkeiten gleichgesetzte Ankopplung an den entufernden Pool auf elektronischem Wege erschließbarer Informationen erweist sich als zweischneidiges Schwert. Jede Form elektronischer Vernetzung generiert eine Datenautobahn, die vom Prinzip her in beiden Richtungen befahrbar ist. Dem Vorteil des Nutzers, bequem auf eine Vielzahl von Informationen zugreifen zu können, steht die Gefahr gegenüber, gegen seinen Willen und ohne sein Wissen ausgeforscht zu werden. Die Wahrung der Privatsphäre wird obsolet, wenn sich dem Einzelnen unbekannte Akteure seiner persönlichen Daten bedienen, um sie in den Dienst kommerzieller Interessen zu stellen oder sie für die erweiterte Verwaltbarkeit des Bürgers zu nutzen.

Die rasant fortschreitende Innovation der Informationstechnologie durchdringt alle Lebensbereiche: Sie dominiert die Arbeitswelt, beherrscht in zunehmendem Maße private Aktivitäten und macht nicht vor Sektoren sozialer Interaktion halt, die bislang für besonders schützenswert erachtet wurden. So wird beispielsweise das Arzt-Patienten-Verhältnis mit der ärztlichen Schweigepflicht versehen, um die Würde des Menschen in einer besonders gefährdeten Lebenslage zu wahren und die Intimität körperlicher oder seelischer Leiden zu schützen. Was der Patient dem ihn behandelnden Arzt anvertraut und dieser ihm im Rahmen der Diagnose und Therapie eröffnet, sollte unter keinen Umständen in unbefugte Hände geraten.

In diesem Zusammenhang stellt die geplante Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (e-Card) einen Frontalangriff auf die Datensicherheit dar, den es entschieden abzuwehren gilt. Daß es sich dabei um eine Schlüsselkomponente der Aushebelung essentieller Schutzmechanismen im Gesundheitswesen handelt, rechtfertigt die bevorzugte Konzentration auf diesen speziellen Abwehrkampf. Zugleich ist er eingebettet in eine umfassende Positionierung gegen eine Gesundheitspolitik, die das Solidarprinzip zugunsten einer Privatisierung entsorgt, die dem Patienten unter dem ideologischen Konstrukt sogenannter Eigenverantwortung die Schuld an seiner Krankheit auflastet. Darüber hinaus knüpft das Engagement gegen die e-Card zwangsläufig Querverbindungen zu zahlreichen weiteren Angriffen auf die Datensicherheit in anderen gesellschaftlichen Bezügen und eröffnet so den Blick für Ausmaß und Stoßrichtung dieser Gefahrenlage für Bürgerrechte und informationelle Selbstbestimmung.

Im Unterschied zur herkömmlichen Versichertenkarte ist die e-Card netzfähig. Die auf ihr gespeicherten Patientendaten sollen mittels dafür geeigneter Lesegeräte über das Internet geleitet und auf Servern in zentralen Patientenakten abgelegt werden, auf die rund zwei Millionen "Teilnehmer am Gesundheitswesen" jederzeit zugreifen können. Wie dieses Grundprinzip des neuen Verfahrens zeigt, wird damit ein Datenfundus geschaffen, der einem vom Patienten unerwünschten Zugriff Tür und Tor öffnet. Schon die große Zahl an Zugriffsberechtigten legt die Möglichkeit eines Mißbrauchs nahe, zumal zwangsläufig auch das keiner gesetzlichen Schweigepflicht unterworfene Wartungspersonal der beteiligten IT-Unternehmen unvermeidlich Einblick nimmt. Zudem wird kein Datenschutzexperte ernsthaft behaupten, daß über das Internet transportierte und auf Zentralservern gespeicherte Daten lückenlos geschützt werden können. Von solchen illegalen Zugriffen abgesehen sind Datensammlungen, die persönliche Informationen über mehr als 70 Millionen deutsche Versicherte enthalten, zwangsläufig eine begehrte Ressource für ein entuferndes administratives Interesse, dem künftige Gesetzesänderungen legalen Zugang verschaffen können.

Ursprünglich sollte die e-Card bereits 2006 eingeführt werden, doch führte eine Flut von Widersprüchen, ungelösten technischen Problemen und Pannen bei Testläufen dazu, daß das Vorhaben mehrfach verschoben und erheblich reduziert wurde. Um sich greifender Protest von Ärzten, Krankenkassen und Datenschützern kippte das elektronische Rezept ebenso wie die elektronische Patientenakte, so daß das futuristische Konzept, alle erdenklichen Daten auf der e-Card zu vereinen, unterwegs auf ein dürftiges Endprodukt zusammenschrumpfte. Jetzt unterscheidet sich die neue Karte, von verbesserten Sicherheitsaspekten abgesehen, von der alten vor allem durch ein aufgedrucktes Lichtbild des Patienten. Obgleich das Projekt inzwischen weithin als gescheitert, nutzlos oder sogar kontraproduktiv eingeschätzt wird, hält das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) an seiner Durchsetzung fest. Um diese zu erzwingen, werden die Krankenkassen durch eine Gesetzesänderung genötigt, ab 1. Oktober 2011 bis Ende des Jahres an 10 Prozent ihrer Versicherten e-Cards auszugeben. Erfüllen sie diese Auflage nicht, drohen ihnen Strafen in Millionenhöhe. Angesichts dieser Terminierung tritt nun der Widerstand gegen die elektronische Gesundheitskarte in eine entscheidende Phase.

Die Beharrlichkeit, dieses Konzept gegen Skepsis und Kritik selbst der Krankenkassen durchzutragen, zeugt von massiven Interessen seiner Befürworter. So handelt es sich bei diesem weltgrößten, aus Steuergeldern und Versichertenbeiträgen finanzierten IT-Projekt auch um eine Maßnahme der wirtschaftlichen Entwicklung. Dies kommt einer Umverteilung von unten nach oben gleich, werden der beteiligten Industrie doch Verwertungsmöglichkeiten auf Kosten der Bürger eröffnet. Die Betreibergesellschaft Gematik speist sich seit 2005 mit jährlich 70 Millionen Euro aus den Beiträgen, da die Kassen einen Euro pro Versicherten beisteuern müssen. Die Gesamtkosten werden derzeit auf 14 Milliarden Euro geschätzt, die dem Gesundheitswesen und damit der Patientenversorgung entzogen werden.

Die postulierten Einsparpotentiale in Milliardenhöhe durch Vermeidung angeblich überflüssiger Doppeluntersuchungen und Effizienzsteigerung in der Verwaltung täuschen unter Vorspiegelung fachlich unhaltbarer Behauptungen darüber hinweg, daß es sich nicht zuletzt um eine Rationalisierungsmaßnahme zu Lasten der Ärzte und Patienten handelt. Angestrebt ist eine Verlagerung der Verwaltung auf die Ebene der Praxen, denen die Bearbeitung und Aktualisierung der e-Card aufgebürdet werden soll. Als in aufwendigen Tests die allgemeine Handhabung und das e-Rezept geprüft wurden, waren die Ergebnisse niederschmetternd. Die neue Technik erleichterte den Ärzten nicht etwa die Arbeit, sondern verlangsamte die Abläufe und reduzierte somit die Zeit für das ohnehin viel zu knapp bemessene Patientengespräch.

Die Kritiker haben gute Gründe und einen langen Atem

Die Aktion "Stoppt die e-Card!", eine bundesweite Bürgerinitiative aus 48 Verbänden und Organisationen, hat also gute Gründe, das kostspielige und gefährliche Projekt der Verlagerung aller Krankheitsdaten in Internetstrukturen zu verhindern. Am 16. September fand ein Treffen der Aktion im Hamburger Ärztehaus statt, an dem teilzunehmen der Schattenblick Gelegenheit hatte. Unter Leitung von Dr. med. Silke Lüder (Sprecherin), Gabi Thiess (Patientenvertreterin), Kai-Uwe Steffens (AK Vorratsdatenspeicherung) und Dr. Manfred Lotze (IPPNW) erörterten die Teilnehmer den aktuellen Stand der e-Card-Einführung, stellten neue Materialien ihrer Kampagne vor, befaßten sich mit dem Widerstand in den Praxen und in Kreisen der Versicherten, hörten einen Bericht zur Onlinepetition Vorratsdatenspeicherung und berieten ihre weitere Vorgehensweise.

Dr. med. Silke Lüder - Foto: © 2011 by Schattenblick

Dr. med. Silke Lüder
Foto: © 2011 by Schattenblick

Silke Lüder berichtete von der Demonstration "Freiheit statt Angst" am 10. September in Berlin, zu der der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung auch in diesem Jahr aufgerufen hatte. Mit rund 5.000 Teilnehmern war die Kundgebung gegen den Überwachungswahn gut besucht, was auch der Aktion "Stoppt die e-Card" ein ausgezeichnetes Forum bot, mit ihrem Redebeitrag viele Menschen zu erreichen und zum Widerstand gegen diesen Angriff auf die Datensicherheit im Gesundheitswesen aufzurufen. Diese Präsenz fand ihren Widerhall in den Berichten der Presseagenturen, worauf die Kontroverse um die e-Card tags darauf von diversen Medien erwähnt wurde. Die Bedeutung dieser Öffentlichkeitsarbeit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, da diese Thematik in der Bevölkerung wenig bekannt ist und in ihrer Tragweite bislang kaum angemessen eingeschätzt werden dürfte.

Nach den zwischenzeitlichen Moratorien und Modifikationen verläuft die Einführung der e-Card längst als schleichender Prozeß, der sich trotz aller Rückschläge und Pleiten immer wieder Bahn bricht. Ungeachtet vehementer Einwände aus dem Gesundheitswesen und verbreiteter Skepsis der Krankenkassen halten Bundesärztekammer und Lobbyisten das Projekt am Leben. Zu den einflußreichsten Befürwortern gehört die Bertelsmannstiftung, die Telematik und Telemedizin für die Branche der Zukunft hält. Ihrer Einschätzung nach eröffnet der Gesundheitsbereich enorme Verwertungsmöglichkeiten, sofern er vollständig elektronisch erschlossen wird. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Zugriff auf die Daten der Versicherten und Patienten, die sich in vielfacher Hinsicht kommerziell nutzen lassen: Die e-Card sei der Wasserhahn, durch den der elektronische Datenverkehr fließt und der für die Telemedizin angezapft werden müsse.

Die Mehrzahl der ursprünglich anvisierten Möglichkeiten der e-Card wie die Speicherung und Übertragung von Röntgenbildern, Laboruntersuchungen und Arztbriefen scheitert in technischer Hinsicht nicht zuletzt an den unzureichenden Übertragungsgeschwindigkeiten. Zudem würde im Falle einer etablierten Vernetzung das System bei dem zu erwartenden gleichzeitigen Zugriff insbesondere zu Quartalsbeginn vermutlich zusammenbrechen, wie es bei der Abwrackprämie der Fall war. Überdies drohten ganze Regionen, die noch nicht mit den modernsten Übertragungsmöglichkeiten ausgestattet sind, regelrecht abgekoppelt zu werden. Der in Aussicht gestellte Zugewinn an Effizienz verkehrte sich damit ins Gegenteil, da unzumutbare Verzögerungen und Blockaden die Abläufe in den Praxen verlangsamten.

Da die ursprünglich vorgesehenen Tests in Regionen mit 100.000 Versicherten so gut wie gescheitert sind, haben die Betreiber ihre Kriterien für Probeläufe inzwischen soweit vereinfacht, daß von aussagefähigen Ergebnissen nicht mehr die Rede sein kann. Um die Akzeptanz des nahezu gescheiterten, aber dennoch nicht aufgegebenen Projekts zu befördern, trägt man zur Bewerbung der e-Card oftmals unzutreffende Argumente vor. Wenn die Industrie in Akzeptanzumfragen suggeriert, man könne im Notfall gerettet werden, wenn die Blutgruppe auf der e-Card gespeichert ist, handelt es sich um eine wissentliche Fehlinformation. Im akuten Notfall bekommt der Patient eine Art Standardblutkonserve, worauf im Krankenhaus die Blutgruppe stets neu getestet werden muß.

Der in der abgespeckten Form der e-Card vorgesehene Notfalldatensatz stellt das wichtigste Werbeargument in der Öffentlichkeit dar. Mit dem verführerischen Hinweis, daß in akuten Fällen der direkte Zugriff auf Patientendaten lebensrettend sein könne, wird einer Patientenakte im Kleinformat der Weg bereitet. Tatsächlich ist aber auch ein solcher Datensatz sehr aussagekräftig und könnte einem Mißbrauch Vorschub leisten. Beispielsweise wäre es Betriebsärzten möglich, "versehentlich" ohne PIN-Nummer einen Blick in die Akte zu werfen und für den Mitarbeiter nachteilige Informationen zu erlangen. Grundsätzlich gilt auch hier, daß Sicherungskopien auf jeden Fall außerhalb der Praxen gespeichert würden und damit die riskante Vernetzung durch die Hintertür Einzug hält.

Ein anderes Beispiel für irreführende Werbung ist die Behauptung, das Foto auf der Karte beuge Mißbrauch vor. Da die Übereinstimmung von Paßbild und Versichertem jedoch nicht im Sinne der Datenschutzrichtlinien geprüft wird, könnte durchaus ein falsches Foto eingereicht werden. Verantwortlich für die Überprüfung der Übereinstimmung von Ausweisinhaber und Lichtbild wären die ausstellenden Krankenkassen, doch ist diese Kontrolle bislang nicht vorgesehen. Trotz dieser offensichtlichen Schwachstelle in der zu Unrecht geltend gemachten höheren Datensicherheit der e-Card interessieren sich die Datenschutzbeauftragten in Bund und Ländern bislang kaum für diesen Aspekt.

Wolfgang Linder vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, bis 2004 stellvertretender Datenschutzbeauftragter in Bremen, wußte zu berichten, daß die offiziell eingesetzten Datenschützer grundsätzlich positiv zur e-Card eingestellt seien. Auf seine Anfrage an sämtliche Datenschutzbeauftragten auf Länder- und Bundesebene, wie sie zum aktuellen Druck auf die Kassen, 10 Prozent der Versicherten mit e-Cards auszustatten, stünden, erhielt er stellvertretend vom Bundesdatenschutzbeauftragten eine größtenteils nichtssagende Antwort. Aufschlußreich war indessen die Aussage, daß die Datenschützer in das Projekt eingebunden seien. Dies wecke Assoziationen mit eingebetteten Journalisten, die für die hautnahe Teilnahme an einem Kriegszug ihre Unabhängigkeit aufgegeben haben. Läßt sich der Datenschutz auf diese Weise vom Konzept vereinnahmen, kann kaum ausbleiben, daß grundsätzliche Kritik an der e-Card für ihn kein Thema mehr ist.

Konzentrierte Arbeitsatmosphäre - Foto: © 2011 by Schattenblick

Konzentrierte Arbeitsatmosphäre
Foto: © 2011 by Schattenblick

Mit Blick auf die Anfang Oktober beginnende zwangsweise Ausgabe von e-cards an 10 Prozent der Kassenmitglieder stellt sich die Frage, ob sich diese der Einführung des neuen Verfahrens verweigern können. Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine diesbezügliche Anfrage der Abgeordneten Kathrin Vogler (Die Linke) hervorgeht, dürfen Skeptiker der e-Card nicht von der ärztlichen Versorgung ausgeschlossen werden. Die Gesundheitspolitikerin der Linkspartei wollte wissen, welche Druckmittel Kassen gegenüber Mitgliedern haben, die sich trotz Aufforderung weigern, ein Paßbild einzureichen. Gravierende Nachteile erwachsen daraus nicht, da laut Auskunft der Bundesregierung zwar die Pflicht zur Vorlage einer Gesundheitskarte bei einer Behandlung besteht, doch Ersatzverfahren vorgesehen sind, falls Versicherte dieser Pflicht nicht nachkommen können. Damit ist allenfalls ein geringfügiger Mehraufwand verbunden, der über die Konsequenzen der e-Card aufgeklärte Patienten nicht daran hindern sollte, durch Verweigerung der Paßfotos die Einführung der neuen Karte zu verzögern oder sogar komplett zu verhindern.

Als zweite Ansatzstelle für die angestrebte Verhinderung der e-Card bietet sich die erforderliche Ausstattung der Praxen mit netzfähigen Eingabegeräten an. Silke Lüder berichtete über den unablässigen Werbedruck, sich neue Geräte anzuschaffen, die derzeit zum Sonderpreis angeboten und den Ärzten regelrecht aufgedrängt werden. Die Aufforderung der Kassenärztlichen Vereinigungen, sich auf Patienten mit der e-Card einzustellen, bedeutet jedoch lediglich, daß ein Gerät vorhanden sein muß, daß diese Karte auslesen kann. Eine Onlineanbindung der Praxis ist deshalb noch lange nicht nötig, da diese frühestens 2014 oder 2015 erforderlich wäre - sofern das gesamte Projekt nicht zuvor verhindert wird. Hinzu kommt, daß heute angeschaffte Geräte in drei Jahren schon wieder veraltet wären und ausgetauscht werden müßten, ohne daß die Kassen die Kosten dafür übernehmen. Als Alternative stehen Terminals zur Verfügung, die alte und neue Karten lesen können, aber nicht onlinefähig sind. Wenngleich für deren Anschaffung kein Zuschuß gewährt wird, sind die Kosten nicht nur gering, sondern es allemal wert, der geplanten Verpflichtung zur zeitaufwendigen Stammdatenaktualisierung bei der e-Card Steine in den Weg zu legen. Je mehr onlinefähige Lesegeräte in den Arztpraxen installiert werden, um so leichter dürfte die letztendliche Vernetzung durchsetzbar sein. Umgekehrt gilt aber ebenso, daß eine geringe Akzeptanz und Verbreitung solcher Terminals ein pragmatischer und nicht zu unterschätzender Beitrag zur Verhinderung des gesamten Projekts sein kann.

Daß Bürgerrechtsarbeit nicht vergebliche Liebesmüh' sei, da man bemerkenswerte Erfolge damit erzielen könne, dokumentierte Kai-Uwe Steffens mit seinem Bericht über den aktuellen Stand der Onlinepetition gegen die Vorratsdatenspeicherung. Nachdem er den Antrag im März eingereicht hatte und sich zwischenzeitlich eine Nichtannahme aus formalen Gründen anzudeuten schien, traf nach einer Wartezeit von fünf Monaten dann im August ein positiver Bescheid ein. Nun galt es binnen einer kurzen Frist ein Quorum von 50.000 Unterzeichnern zu erreichen, das für eine Anhörung vor dem Petitionsausschuß erforderlich ist. Zunächst war die Unterstützung weit von dieser Marge entfernt, doch nach der Berliner Demonstration "Freiheit statt Angst" schnellten die Zugriffszahlen derart in die Höhe, daß zum Ablauf des vorgegebenen Zeitraums 58.000 Unterzeichner gefunden waren. In Kürze folgt nun der Auftritt vor dem Ausschuß, der Steffens zufolge nicht nur dem überzeugenden Vortrag der eigenen Argumente dient, sondern zugleich den politischen Gegner zum Nachdenken veranlassen könnte. Einer von der CDU in Auftrag gegebenen Allensbach-Umfrage zufolge lehnen zwei Drittel der Bevölkerung die Vorratsdatenspeicherung ab, was selbst für 56 Prozent der Unionsanhänger gilt.

An den erfreulichen Bericht über die Kampagne gegen die Vorratsdatenspeicherung schloß sich die Überlegung an, ob nicht auch hinsichtlich der e-Card eine Petition hilfreich sein könnte. Da im Falle einer Ablehnung durch den Ausschuß dieser Weg kein zweites Mal beschritten werden kann, sind sorgsame Vorbereitung und die Wahl eines günstigen Zeitpunkts geboten. Unabhängig davon waren sich die Anwesenden einig, daß weitere Schritte zur verbesserten Präsenz in Medien und Öffentlichkeit unternommen werden sollten. Erörtert wurde in diesem Zusammenhang unter anderem eine mögliche Kontaktnahme mit politischen Parteien, um deren Haltung zur e-Card auszuloten und eine punktuelle Kooperation in dieser Sache zu diskutieren. Nach ihrem Selbstverständnis ist die Aktion "Stoppt die e-Card!" parteipolitisch unabhängig, weshalb sie auch noch nie Vertreter von Parteien zu ihren Arbeitstreffen eingeladen hat. Diese Maxime macht eine Zusammenarbeit innerhalb der Bürgerinitiative ungeachtet etwaiger politischer Differenzen dauerhaft möglich und hält Befürworter der e-Card davon ab, der Initiative parteipolitische Einseitigkeit vorzuwerfen. Im Jahr 2009 brachte die Aktion auf einer Bundespressekonferenz je einen Vertreter der FDP und der Linkspartei zusammen, womit deutlich wurde, daß ein Schulterschluß in der gemeinsam vertretenen Sache über zum Teil gravierende Meinungsunterschiede in vielen anderen Fragen hinweg durchaus möglich ist, sofern es gelingt, ein geeignetes Forum bereitzustellen. An der Unabhängigkeit der Aktion gegen die e-Card soll sich auch künftig nichts ändern, weshalb der Vorschlag Zustimmung fand, sich in einem gleichlautenden Schreiben an alle Parteien zu wenden.

Wolfgang Linder wies auf eine Veranstaltung in Bremen hin, bei der er selbst mit Vertretern des Hausärzteverbands, der Ersatzkassen, der Verbraucherzentrale, der Patientenstelle im Gesundheitsladen und des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung auf dem Podium sitzen wird. Veranstaltet von der Arbeitnehmerkammer wird am 28. September von 19 bis 21.30 Uhr das Thema "Die elektronische Gesundheitskarte - Chance oder Risiko für Versicherte?" in Vortrag und Podiumsdiskussion erörtert.

Als die damalige Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt, im März 2006 in ihrem Vorwort zur Werbebroschüre für die elektronische Gesundheitskarte schrieb, mit deren Einführung werde der Weg "für mehr Qualität, mehr Sicherheit und mehr Effizienz im Gesundheitswesen" beschritten, meinte sie offenbar weder eine angemessene medizinische Versorgung aller Bürger, noch einen uneingeschränkten Zugang zu hochwertigen ärztlichen Leistungen. Vielleicht vergaß sie auch nur hinzuzufügen, in wessen Händen die drei genannten Prädikate Gültigkeit erlangen sollten. Dient die "kleine schlaue Karte" dem Zweck, qualitativ verbesserte Verwertungsbedingungen in diesem gesellschaftlichen Sektor zu befördern, den Zugriff auf den Patienten zu sichern und der Rationalisierung samt verschärften Arbeitsbedingungen effektiv Vorschub zu leisten, droht sich die Vorhersage der Gesundheitspolitikerin auf ungeahnte Weise zu erfüllen.

Ärztehaus Hamburg - Foto: © 2011 by Schattenblick

Ärztehaus Hamburg
Foto: © 2011 by Schattenblick

21. September 2011